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Eine andere Ansicht: Rosa Luxemburg (1913)

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Wir haben auch noch mit einer andern Illusion, die Verwirrung anrichten kann, reinen Tisch zu machen, nämlich mit der Illusion von der Abrüstung. Vor einigen Jahren gefiel es dem englischen Minister Grey, eine schöne Rede zu halten, in der er für eine Verständigung über die Rüstungen eintrat. Kaum hatte man dies bei uns gehört, so sagten einige Genossen unsrer Reichstagsfraktion: Bravo, der Mann spricht wie ein Buch. Sie glaubten, auf diese Weise könnten wir von dem Krieg nach rückwärts zu dem Frieden kommen. Als aber Grey so sprach, hatte er schon eine neue Flottenvorlage in der Tasche und statt der Abrüstungen kamen ungeheuere neue Rüstungen. Auch in Deutschland war es ja ähnlich. In der Budgetkommission redete der Kriegsminister einer Verständigung mit England das Wort. Das gab ein großes Hallo! Ein deutscher Kriegsminister, der wie eine Taube den Ölzweig des Friedens im Schnabel hielt; das war in Wirklichkeit das Vorspiel zu der ungeheueren Militärvorlage. Man muß doch geradezu die Augen schließen, um nicht zu sehen, daß die Rüstungen eine naturnotwendige Konsequenz der ganzen ökonomischen Entwicklung sind. Solange das Kapital herrscht, werden Rüstungen und Krieg nicht aufhören. Alle großen und kleinen kapitalistischen Staaten sind jetzt in den Strudel der Wettrüstungen gerissen. Es war immer das Vorrecht der Sozialdemokratie, daß sie mit ihren Bestrebungen nicht im Wolkenkuckucksheim wurzelte, sondern mit festen Füßen auf dem realen Boden stand. Wir haben bei allen Erscheinungen in der Politik immer gefragt, wie sich diese Erscheinungen mit der kapitalistischen Entwicklung vereinbaren. Wie haben wir doch über die bürgerlichen Friedenspolitiker gelacht, diese guten Leute und schlechten Musikanten. Es ist eine hoffnungslose Utopie, zu erwarten, daß durch unsre Propaganda für die Abrüstung die kapitalistischen Staaten aufhören werden zu rüsten. Die Rüstungen sind eine fatale Konsequenz der kapitalistischen Entwicklung, und dieser Weg führt in den Abgrund.

Wir haben ein ganz anderes Ziel zu verfolgen, das uns klar und deutlich unsre historische Aufgabe stellt, das Milizsystem, die Bewaffnung des Volkes, wie sie unser Programm verlangt. Wir haben die Pflicht, dem Volke zu sagen, daß es aufhören muß, Kadavergehorsam zu zeigen, daß es seine eignen Interessen wahrnehmen muß. Allerdings, die Forderung der Miliz ist etwas ganz anderes als die Abrüstung der herrschenden Klasse; das Milizsystem kann einzig und allein nur aus der Tatkraft des Proletariats hervorgehen. Wir täuschen uns nicht, wir glauben nicht, daß wir von heute auf morgen die Miliz einführen können. Eine Heeresorganisation, bei der das Volk in Waffen entscheidet, ob es in den Krieg ziehen will oder nicht, läßt sich nicht vereinbaren mit der Herrschaft der Krupps und der Rüstungskartelle. Um die Miliz einzuführen, müssen wir die herrschenden Klassen stürzen, das bedeutet eine Revolution, ein gewaltiges Stück historischer Arbeit. Aber soll das ein Anlaß sein, unsre Forderung wie ein Familienheiligtum sorgfältig im Schrank aufzubewahren, um es immer bei besonders feierlichen Gelegenheiten hervorzuholen?

Nein! Wir müssen die Miliz fordern im täglichen Aktionsprogramme; das Volk muß wissen, daß die Durchführung der Forderung den Sturz der Junkerherrschaft voraussetzt. In Frankreich erleben wir jetzt den stürmischen Protest gegen die dreijährige Dienstzeit, dort beginnt schon die Opposition gegen den militärischen Kadavergehorsam. Sollte der deutsche Arbeiter dümmer und schlechter und feiger sein? Ich glaube, daß wir nicht umsonst vier Millionen sozialdemokratische Stimmen zählen und nicht umsonst 50 Jahre sozialistischer Geschichte hinter uns haben. Auch die Zeit wird kommen, wo die deutsche Arbeiterschaft sich nicht mehr kommandieren läßt, wo Sie sich wie ein Mann erhebt und sagt: Ich will es nicht, ich tue es nicht! (Lebhafter Beifall.)

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