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5. Verunsicherungen der Moderne
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Überblick   |   1. Die Vertiefung der Teilung   |   2. Der Konflikt zwischen Demokratie und Dikatur   |   3. Probleme der sozialen Marktwirtschaft   |   4. Umgang mit sozialen Konflikten   |   5. Verunsicherungen der Moderne   |   6. Erfolg im Westen – Scheitern im Osten

Im Bereich der Kultur triumphierte der Modernismus während der 1960er Jahre in beiden deutschen Staaten auf ganzer Linie. In mit öffentlichen Geldern unterstützten, intellektuell anspruchsvollen Institutionen im Westen wie Museen, Theatern und Konzertsälen dominierte jetzt eine internationale Avantgarde, die abstrakten Expressionismus, das absurde Theater und experimentelle Musik propagierte – Geschmacksrichtungen, die nur Kenner ansprachen. Die Massen wandten sich ab den fünfziger Jahren der Populärkultur zu, die durch bessere Radios, Farbfernseher, Langspielplatten, Kassettenrecorder und Ähnlichem zugänglich gemacht wurde. Diese Apparate verbreiteten Importe wie Rock 'n' Roll oder Hollywood-Filme, die den in Hochglanzmagazinen abgebildeten amerikanischen Lifestyle zum Ausdruck der modernen Form des guten Lebens erhoben. Mit steigendem Wohlstand fanden die Symbole des Massenkonsums wie Telefone, Kühlschränke, Waschmaschinen und Autos immer größere Verbreitung in der westdeutschen Bevölkerung. Die DDR geriet unter Druck, mit ihrer eigenen sozialistischen Version eine Miniaturausgabe dieser attraktiven Konsumgesellschaft anzubieten, konnte jedoch nicht mit dem Westen konkurrieren (25).

Der Wandel in Kultur und Einstellungen wurde zum Teil befördert durch die massive Ausweitung der weiterführenden Schulen und der Hochschulen. In der Bundesrepublik kritisierte Georg Picht das „Bildungsdefizit“, und Ralf Dahrendorf, der Bildung als ein „Bürgerrecht“ bezeichnete, forderte eine Ausweitung des höheren Schulwesens und gleiche Bildungschancen für benachteiligte Studenten. Gewaltige Investitionen in Lehrerausbildung und -anstellung und neue Gebäude erlaubten in den siebziger Jahren ungefähr der Hälfte einer Altersgruppe den Zugang zum Gymnasium und einem Viertel den Besuch der Universität. Bildungsreformer entwickelten außerdem Gesamtschulen und Gesamthochschulen und eine größere Auswahl an Studiengängen. In den 1980er Jahren erlahmte der Schwung jedoch, mangelnde finanzielle Ausstattung führte erneut zur Überfüllung, und das Bundesverfassungsgericht schraubte die studentische Mitbestimmung zurück. In der DDR führten die Sozialisten eine an der Berufsausbildung orientierte polytechnische Schulbildung ein, die bevorzugt Kindern aus Arbeiter- und Bauernfamilien zugute kam. Die dritte Universitätsreform war aber eine seltsame Mischung aus längst fälliger Modernisierung und Politisierung, die die Kontrolle der SED noch ausdehnte (26).

Das rasche Fortschreiten der Modernisierung im sozialen und kulturellen Bereich rief schließlich eine Reihe von Identitätsdebatten über die Frage hervor, was es hieß, Deutscher in einem geteilten Land zu sein. In der Bundesrepublik setzten diese Debatten mit der Wiederentdeckung der Heimat ein, einem etwas mythischen Begriff vom eigenen Zuhause und regionaler Verwurzelung, der weit über die Reihen der Grünen hinaus populär war. Eine andere Diskussion drehte sich um die Frage, welche Merkmale überhaupt noch „Deutsch-Sein“ auszeichneten, nachdem durch gründliche Internationalisierung von Kultur, Einstellung und Lebensweisen sogar die Essensvorlieben der Deutschen der italienischen Küche galten. Eine dritte Debatte konzentrierte sich unter dem Namen „Historikerstreit“ auf das Problem der deutschen Schuld am und der Einzigartigkeit des Holocaust, die kritische Intellektuelle verfochten, konservative Angehörige der älteren Generation jedoch weiterhin zurückwiesen (27). In der DDR bemühte sich das Honecker-Regime um größere Zustimmung bei der Bevölkerung, indem es zuvor kritisch bewertete Figuren der deutschen Vergangenheit, wie Martin Luther, den preußischen König Friedrich den Großen oder den Einiger des deutschen Reiches, Otto von Bismarck, akzeptierte. Verschiedene Schriftsteller auf beiden Seiten benutzten den Begriff „Kulturnation“, um damit ein unterschwelliges Gefühl des „Deutsch-Seins“ zu bezeichnen, obschon sie sich gegen Nationalismus aussprachen (28).



(25) Michael Wildt, Am Beginn der „Konsumgesellschaft“ . Mangelerfahrung, Lebenshaltung und Wohlstand in Westdeutschland in den fünfziger Jahren (Hamburg, 1994) vs. Ina Merkel, Utopie und Bedürfnis. Geschichte der Konsumkultur in der DDR (Köln, 1999), und „Working People and Consumption under Really-Existing Socialism: Perspectives from the German Democratic Republic“, International Labor and Working Class History 55 (1999), S. 92-111.
(26) Konrad H. Jarausch, „Das Humboldt-Syndrom. Die westdeutschen Universitäten 1945-1989 – Ein akademischer Sonderweg?“ und John Connelly, „Humboldt im Staatsdienst. Ostdeutsche Universitäten 1945-1989“, in Mitchell G. Ash, Hg., Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten (Wien, 1999), S. 58-104.
(27) Herman Glaser, Kleine deutsche Kulturgeschichte. Eine west-östliche Erzählung vom Kriegsende bis heute (Frankfurt, 2004). Cf. Charles Maier, The Unmasterable Past: History, Holocaust and German National Identity (Cambridge, MA, 1988).
(28) Helmut Meier und Walther Schmidt, Hg., Erbe und Tradition in der DDR. Die Diskussion der Historiker (Berlin, 1988). Cf. Konrad H. Jarausch, „Die postnationale Nation. Zum Identitätswandel der Deutschen 1945-1995“, Historicum (Frühjahr 1995), S. 30-35.

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