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2. Der Konflikt zwischen Demokratie und Dikatur
Druckfassung

Überblick   |   1. Die Vertiefung der Teilung   |   2. Der Konflikt zwischen Demokratie und Dikatur   |   3. Probleme der sozialen Marktwirtschaft   |   4. Umgang mit sozialen Konflikten   |   5. Verunsicherungen der Moderne   |   6. Erfolg im Westen – Scheitern im Osten

Nach dem Bau der Berliner Mauer hatten beide deutsche Staaten die Gelegenheit, ihr jeweiliges politisches System zu konsolidieren. Während die Bonner Regierung an internationalem Ansehen und demokratischer Glaubwürdigkeit gewann, setzte das Ostberliner Regime seine diktatorische Herrschaft fort, auch wenn sich seine Politik im Einzelnen weiterentwickelte. 1961 weigerte sich Bundeskanzler Konrad Adenauer trotz seines fortgeschrittenen Alters, die Macht abzugeben, aber dann stürzte er 1962 über die „Spiegel-Affäre“, im Zuge derer die Pressefreiheit verletzt wurde, was ihn wiederum ein Jahr später zum Rücktritt zwang. Auch wenn sein Nachfolger Ludwig Erhard noch von der CDU gestellt wurde, verweigerten die Freien Demokraten diesem erfolgreichen Wirtschaftsexperten – aber weniger geschickten Politiker – schließlich ihre Unterstützung. 1966 folgte eine Große Koalition unter Kurt-Georg Kiesinger (CDU) und Willy Brandt (SPD) (12). Als der ostdeutsche SED-Führer Walter Ulbricht mit Wirtschaftsreformen, einer toleranteren Kulturpolitik und der Annäherung an Westdeutschland experimentierte, wurde er von dem orthodoxeren Erich Honecker mit sowjetischer Hilfe gestürzt. Der Machtantritt dieses anti-faschistischen Widerstandskämpfers verstärkte den diktatorischen Charakter des kommunistischen Regimes zusätzlich (13).

Im Gegensatz dazu bedeutete die Bildung der Regierung Brandt-Scheel eine vollständige Machtübergabe an die Opposition zwei Jahrzehnte nach Gründung der Bundesrepublik. Nach einem knappen Wahlsieg 1969 einigten sich die Sozialdemokraten (SPD) und die Freien Demokraten (FDP) darauf, die erste sozial-liberale Koalition auf Bundesebene zu bilden. Das innenpolitische Gegenstück zu Willy Brandts Versöhnung mit den östlichen Nachbarn war eine durchgreifende Reformpolitik unter dem Schlagwort „Mehr Demokratie wagen“, die insbesondere jüngere Wähler ansprach. Im Zeichen dieser Politik baute die SPD-FDP-Regierung den Sozialstaat aus, ließ höhere Lohnsteigerungen zu, eröffnete breiteren Schichten Bildungschancen und gründete neue Universitäten (14). Zur selben Zeit warb Honecker im Osten mit dem Slogan „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ für eine kommunistische Variante des Konsums. Der darin implizierte soziale Vertrag mit der Bevölkerung versprach materielle Vorteile im Gegenzug für politische Zustimmung, weckte jedoch Erwartungen, die auf lange Sicht nicht erfüllt werden konnten. Darüber hinaus kostete die Bevorzugung von Konsumgütern vor Kapitalinvestitionen viel Geld, was Anleihen im Ausland erforderlich machte, die letztlich wiederum zum Bankrott der DDR beitrugen (15).

Infolge wirtschaftlicher Stagnation und ideologischer Erosion büßte der Marxismus-Leninismus im Osten in den siebziger und achtziger Jahren den größten Teil seiner ideologischen Glaubwürdigkeit ein. Während die hinter dem Westen zurückbleibende Wirtschaftsleistung die Arbeiterschaft frustrierte, machte die Unterdrückung von Alexander Dubceks „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ in der Tschechoslowakei durch sowjetische Panzer im Sommer 1968 Intellektuellen in der DDR deutlich, dass die kommunistischen Regime stärker auf Zwang als auf der Zustimmung des Volkes beruhten. Selbst überzeugte Kommunisten verloren hierdurch den Glauben an die Überlegenheit ihrer sozialistischen Utopie. Zunehmend kritisierten Dissidenten wie Robert Havemann die SED, im Schatten der evangelischen Kirche blühte eine unabhängige Friedensbewegung auf, und eine subkulturelle Jugend- und Kunstszene entstand. Ironischerweise machte die massive Stasi-Unterdrückung oppositionellen Gruppen deutlich, wie wichtig Bürgerrechte westlicher Prägung waren (16). Im Unterschied dazu gelang es den Sozialdemokraten im Westen, Wettbewerbsanreize mit der Bereitstellung sozialer Sicherheit in einem umfassenden Wohlfahrtsstaat zu vereinen (17).



(12) Dennis L. Barck und David A. Gress, A History of West Germany. 2. Aufl. (London, 1993).
(13) Monika Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen von 1962 bis 1972 (Berlin, 1997); Jeffrey Kopstein, „Ulbricht Embattled: The Quest for Socialist Modernity in the Light of New Sources“, Europe-Asia Studies 46 (1994), S. 597-615.
(14) Peter Merseburger, Willy Brandt 1913-1992. Visionär und Realist (Stuttgart, 2002); Barbara Marshall, Willy Brandt. A Political Biography (New York, 1997).
(15) Andre Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR (München, 2004); Phillip J. Bryson und Manfred Melzer, The End of the East German Economy. From Honecker to Reunification (New York, 1991).
(16) Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR, 1971-1989 (Berlin, 1999); Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989 (Berlin, 1997); Christian Joppke, East German Dissidents and the Revolution of 1989. Social Movement in a Leninist Regime (New York, 1995).
(17) Hans-Günter Hockerts, Hg., Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich (München, 1998).

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