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4. Die Gesellschaftsordnung
Druckfassung

1. Die Konturen des Alltagslebens   |   2. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation   |   3. Macht und Herrschaft im deutschen Territorialfürstentum: Der Ständestaat   |   4. Die Gesellschaftsordnung   |   5. Das Wirtschaftsleben   |   6. Kulturelles Leben im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg   |   7. Die Originalität der deutschen Aufklärung   |   8. Spannungen der Spätaufklärung   |   9. Schlußbemerkungen: Drei Geisteshaltungen des Zeitalters   |   10. Kurzbibliographie zusammenfassender Werke und allgemeiner Darstellungen zur deutschen Geschichte


In der Ära von 1648-1815, die bisweilen weit gefasst als „das lange 18. Jahrhundert“ begriffen wird, erreichte die vorindustrielle Gesellschaft in Deutschland ihre vollste Blüte, während sie gleichzeitig den Grundstock für den Industrialismus legte, der sie in der Folge überschatten sollte. Das ländliche Leben erreichte einen Höhepunkt an Komplexität, wies eine dicht besiedelte Dorflandschaft auf, herrschaftliche Landgüter und Weiler, die ihnen untertan waren, Marktstädte, Schäfer- und Forstbetriebe und viele ländliche Gewerbeunternehmen, vor allem Mühlen, die auf Wasser- und Windkraft angewiesen waren. Rund 80 oder 90 Prozent der deutschen Bevölkerung wohnten in einem solchen Umfeld. Unter den Stadtbewohnern lebten mehr in mittelgroßen Markt- oder Verwaltungszentren mit einigen Tausenden oder Zehntausenden Einwohnern als in Großstädten wie Berlin, Frankfurt, Hamburg, Leipzig, München und Wien, deren Einwohnerzahlen nur langsam auf 100.000 oder darüber anwuchsen.

Die Bauern auf den Dörfern waren entweder Vollbauern (Vollhufner) mit genug Landbesitz, um ihre Familien durch gemischte Getreidewirtschaft und Viehzucht allein zu ernähren (auf durchschnittlich fruchtbaren Böden reichten ca. 8-16 Hektar gerade aus, und viele Bauernhöfe waren wesentlich größer). Oder sie wirtschafteten als Halbbauern (Halbhüfner) oder Kleinbauern (Häusler), die teils von der Bestellung ihrer Felder und teils vom Tagelohnwerk für andere lebten, was gelegentlich saisonale Heimarbeit, vor allem Spinnen und Weben, einschloss, jedoch auch einfache Holzarbeiten und das Metallhandwerk. Praktisch alle landbesitzenden Dorfbewohner waren rechtliche Untertanen der einen oder anderen alteingesessenen Herrschaft: Es handelte sich um feudalherrschaftliche Macht, die vom Landadel oder – im Falle von Dörfern, die der katholischen Kirche oder einem Territorialfürsten untertänig waren – von untergeordneten Beamten oder Pachtbauern ausgeübt wurde, welche die kirchlichen oder fürstlichen Güter pachteten. Herrschaft brachte Verantwortung für den Unterhalt des lokalen Gerichts- und Polizeiwesens (einschließlich gesundheitsschädlicher, aber manchmal eine Flucht zulassender Gefängnisse), für die Zusammenarbeit bei der Aufrechterhaltung des religiösen Lebens und für die Unterstützung bei der Aushebung von Steuern und wehrpflichtigen Soldaten mit sich.

Untertänige Dorfbewohner verfügten über ihre Ländereien normalerweise in Form einer Erbpacht, sei es de facto oder de jure. Häufig, jedoch nicht immer, war es ihnen freigestellt, ihre Pachtgüter untereinander zu veräußern, wenngleich die ländliche Kultur das über Generationen ungeschmälerte Erbe sehr hoch ansetzte. Unter den gemeinen Leuten, die einer Feudalherrschaft unterlagen, war die Zahlung eines Pachtzinses – Historiker sprechen gelegentlich von Feudalrenten – allgemein üblich. Solche Verbindlichkeiten konnten in Naturalien (besonders Getreide), Bargeld oder Arbeitsdiensten beglichen werden (z. B. mindestens einige Tage Arbeit auf dem grundherrschaftlichen Gut jährlich oder maximal drei Tage wöchentlich oder mehr solcher Arbeit, wobei – im Falle von Großpächtern – zwei Landarbeiter und ein Pferdegespann zum Einsatz kamen).

Spann- und Handdienste spielten überall dort beim bäuerlichen Pachtzins eine große Rolle, wo Feudalherren eigene große Landgüter bewirtschafteten und Feldfrüchte für nahe oder ferne Märkte anbauten. Solche Bedingungen herrschten im nördlichen und östlichen (ostelbischen) Deutschland vor, am deutlichsten im Königreich Preußen, dessen Landadel in der historischen Literatur unter dem Begriff „die Junker“ vorkommt (ein mittelalterliches Wort für junge Edelmänner [„junger Herr“]). Die großen Landgüter der Junker lieferten häufig ihre Getreideüberschüsse gewinnbringend über Binnen- und Ostseehäfen an Deutschlands blühende Städte oder nach Westeuropa. Die ihnen untertänigen Dorfbewohner leisteten schwere Frondienste und waren in einigen Regionen als Leibeigene an ihre Geburtsorte gebunden (Schollenpflicht).

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