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Helene Stöcker, „Die moderne Frau” (1893)

Obwohl sich Frauen im Wilhelminischen Deutschland vielen rechtlichen und gesellschaftlichen Hindernissen gegenüber sahen, war Helene Stöckers (1869-1943) Entwurf der „modernen Frau“ frei von vorherrschenden gesellschaftlichen Vorurteilen. Unabhängig, gebildet und mit nach vorne gerichtetem Blick, hielt diese „moderne Frau“ in der Zukunft Ausschau nach der ersehnten Freiheit. In der Tradition der Schriften von Mary Wollstonecraft (1759-1797) und John Stuart Mill (1806-1873), dokumentiert dieses Zeugnis die fortschrittlichen Ideen von Frauen in der modernen Gesellschaft.

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Was Sie auch sagen mögen, ich weiß es ganz genau –: die moderne Frau ist etwas, das noch nicht in dieses Jahrhundert hineingehört – für die es noch keinen Namen und – keinen Mann gibt, keine Stellung in der Gesellschaft; denn ihrem ganzen, innersten Wesen nach gehört sie in ein Zeitalter der Zukunft – kurz, sie hat sich auf jeden Fall verfrüht.

Ich meine eine ganz bestimmte Spezies, die ich auch bei Frau Marholm* – (und Frau Marholm ist fast der einzige moderne Mensch, der etwas davon weiß) nicht gefunden habe. Es ist weder »la détraquée« – es ist auch nicht ganz »la grande Amoureuse«, obwohl sie der vielleicht am nächsten käme – und mit der Cérébrale hat sie eben nur die Intelligenz gemein. Es ist auch nicht das »unverbildete Mädchen aus den arbeitenden Klassen«, für die man zuweilen schwärmt – es ist – ja, der Name ist schwer zu finden – die moderne Frau – meist unverheiratet – die sich nach Stuart Mill und Bebel auch noch mit Nietzsche und Frau Marholm beschäftigt hat, die John Henry Mackays Individualismus teilt, nachdem sie eine Zeitlang in Gefahr war, zur sozialistischen Partei zu schwören – und die – eine andere »Magda«** – nur mit mehr Ernst und Tiefe – hinausgeht aus dem schützenden Vaterhaus, um sich die pekuniäre Unabhängigkeit zu erringen – die erste Vorbedingung zu jeder Art von Freiheit. Das, was sie von Frau Marholms so fein geschiedenen Typen noch trennt, ist ihr stark bewußtes Individualitätsgefühl und der durchaus nicht zwiespältige Zug ihrer Seele, der nach beidem verlangt, – was Stuart Mill einerseits und Frau Marholm andererseits ihr zugestehen wollen: ihr Recht auf Freiheit und ihr Recht auf Liebe!

Sie denkt nicht, dem Manne absolut »gleich« zu werden – aber sie will ein glücklicher – und das bedeutet auch für sie: ein freier Mensch werden und sich zugleich in ihrer Weibart immer höher entwickeln. Sie beklagt es längst nicht mehr – wie sie das als Kind vielleicht getan –, daß sie kein Mann ist; im Gegenteil, sie ist bereits zu einem wohligen Gefühl ihrer Weib-Vorzüge gekommen. Dazu das Bewußtsein ihres Selbstmenschentums – ihr Zukunftsgefühl, da sie noch etwas Seltenes, Alleinstehendes ist, das in keine der Kategorien mehr paßt, das noch ganz die Wonne des Individuums empfinden darf. Und endlich die große Sicherheit dem Manne gegenüber: sie steht ihm nicht als Verächterin oder Rächerin gegenüber, sondern mit hellen, offenen Augen und wachem Herzen. Sie ist eigentlich geboren, zu lieben mit allen Fibern ihres Wesens, mit Geist, Herz und Sinnen – mit allen Nerven – denn sie ist im edlen Sinne – wie Mantegazza sagt – viel geschlechtsbedürftiger als der Mann. Aber da der Mann,


* Frau Marholm: Laura M., (Pseud. für Laura Mohr, 1854-1905), Schriftstellerin, verheiratet mit Ola Hansson; »la détraquée«, »la grande amoureuse«, und »cérébrale« sind drei von L. M. in ihrem Aufsatz »Zur Psychologie der Frau« (Freie Bühne 1, S. 1094-1105, 1202-1214, 1304-1313) beschriebene Frauentypen. Information aus: Helene Stöcker, „Die moderne Frau“ in Jürgen Schutte und Peter Sprengel, Berliner Moderne 1885-1914. Stuttgart, 1987, S. 152.
**»Magda«: Heldin des Schauspiels Heimat (1893) von Hermann Sudermann. Information aus: Schutte und Sprengel, Berliner Moderne, S. 154.

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