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Hans Delbrück über Bismarcks Erbe (April 1890)

Für viele Zeitgenossen war Bismarcks Rücktritt am 20. März 1890 ein folgenschwerer Einschnitt; er löste jedenfalls eine Flut von Kommentaren aus. In seiner detaillierten Hintergrundanalyse vom April 1890 in den Preußischen Jahrbüchern sucht der Historiker, Journalist und Freikonservative Reichstagsabgeordnete Hans Delbrück (1848-1929) eine Balance zwischen Lob für Bismarcks große Leistungen und Vertrauen in die Zukunft Deutschlands nach dessen Abtreten. Wie er ausführt, ist Deutschland „tief bewegt im Gemüte, aber ohne jede politische Erschütterung“. Nichtsdestoweniger scheint sich Delbrück sicher zu sein, dass die derzeitige parteipolitische Konstellation in Deutschland Bismarcks Entlassung nicht unverändert überstehen wird. Er legt dabei nahe, dass die linksliberale Freisinnige Partei am meisten zu verlieren hat, falls sie den fruchtlosen Widerstand gegen die großen „nationalen“ Ziele nicht aufgibt.

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An der Stelle, wo Ranke in seiner Weltgeschichte das Ende des Heiligen Bonifatius, des Apostels der Deutschen erzählt, liest man: „Es ist das Schicksal hochbegabter Menschen: mit ihren innersten und tiefsten Gedanken suchen sie in die Welt einzugreifen; sie geraten aber damit in das Getriebe der Kämpfe, die sie umgeben; es gelingt ihnen eine große Wirkung auszuüben; aber damit werden sie selbst entbehrlich. Indem Bonifatius seine Mission wieder aufnahm, ohne daß er dieselben Stützen, wie früher, für sich gehabt hätte, kam er um, mißmutig und verstimmt über seine äußere Lage, aber freudig in seinem Beruf, in seiner Seele unerschüttert, hochherzig und tapfer“.

Hat je die tragische Muse ergreifender gesprochen? Es ist das Schicksal und die Größe des großen Mannes, daß er sich durch seine eigene Leistung endlich entbehrlich macht. Stehen wir abermals vor einer weltgeschichtlichen Erscheinung, welche so das Höchste der menschlichen Schaffenskraft und die Grenzen der Menschheit in ihrer unerbittlichen Einheit vor das kummervolle Auge stellt?

Die Trivialität ist imstande, in dem 'sich selbst entbehrlich machen' eine Geringschätzung oder wenigstens eine Minderung der Anerkennung zu sehen. Wir wollen uns dadurch nicht abschrecken lassen, gerade unter diesem Gesichtspunkt als dem, der zwar keineswegs die Katastrophe erklärt, aber der ihr Eintreten erst möglich gemacht hat, das Ereignis der Verabschiedung des Fürsten Bismarck zu betrachten. Es ist der Standpunkt des Optimismus; wir wollen uns mutig zu ihm bekennen.

Von der auswärtigen Politik ist Herr von Bismarck einmal ausgegangen; von ihr ist auch jetzt zu beginnen. Die große Spannung des russischfranzösischen Krieges, die Europa seit einem Jahrzehnt in Atem erhält, ist nicht überwunden und kann ihrer Natur nach niemals überwunden werden — anders als indem sie bricht — aber seit mehr als einem Jahr ist doch allmählich derjenige Zustand eingetreten, der das Höchsterreichbare darstellt, daß man nämlich die Krisis nicht mehr für imminent hält. Niemand kann wissen, wie lange diese relative Ruhe anhält, wie bald jene unheimliche Nervosität der Erwartung in den Staatsmännern und der öffentlichen Meinung wieder erwacht, aber klar ist, daß nur in einer solchen Ruhepause der Kanzlerwechsel in Deutschland möglich war und daß es kein anderer als der Fürst Bismarck selbst ist, dem wir diesen, vielleicht nur Moment der Ruhe verdanken. Der Dreibund, die Annäherung Englands an diesen Bund, die Stetigkeit des Bundes durch drei Regierungen sind sein Werk. Von unendlichem Wert ist der Umschwung in der öffentlichen Meinung des Auslandes über die

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