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Albrecht von Stosch an Graf Alfred von Waldersee über den Nachfolger Bismarcks (30. Januar 1890)

Bismarcks erzwungenem Rücktritt als deutscher Reichskanzler am 20. März 1890 waren heftige Machenschaften seitens unzähliger grauer Eminenzen vorangegangen. In diesem Brief vom Januar 1890 schreibt Albrecht von Stosch (1818-1896), der von 1872 bis zu seiner von Bismarck betriebenen Entlassung 1883 als Chef der Admiralität diente, an einen anderen führenden Bismarckgegner, den Grafen Alfred von Waldersee (1832-1904), Chef des Generalstabs seit 1888. Stoschs einleitende Bemerkung – dass die Zeit für Erwägungen über einen Nachfolger für Bismarck gekommen sei – ist besonders pikant. Stosch stand den Linksliberalen nahe, die vor dem frühzeitigen Tod Kaiser Friedrichs III. 1888 auf eine neue Reformära unter dessen Regierung gehofft hatten, und Stosch hatte angeblich einmal bei den Liberalen die Liste der Bismarcknachfolger angeführt. Waldersee hatte enge Beziehungen zu Friedrichs Sohn, dem jetzigen Kaiser Wilhelm II., gepflegt; auch er stand in engem Kontakt mit den Bismarckgegnern unter den Konservativen; auch er wurde als bestes Kanzlermaterial betrachtet – jedenfalls von der äußersten Rechten. Stosch skizziert, was der Nachfolger Bismarcks seiner Meinung nach benötigte. Trotz unsicherer Unterstützung eines neuen Kanzlers durch den jungen Kaiser Wilhelm empfiehlt Stosch sowohl Kontinuität als auch einen Neuanfang.

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Es muß an die Nachfolge Bismarcks gedacht werden. Da mir nun Roggenbach erzählt, er habe diese Sache schon mal mit Ihnen besprochen, ich aber seinen Ansichten gar nicht beitreten kann, wohl aber denen Miquels, der den Dingen von uns am nächsten steht, so bin ich so dreist, Ihnen das Ergebnis meines Denkens in der Angelegenheit mitzuteilen, ohne von Ihnen eine Antwort oder Erwiderung zu erwarten.

1. Der Nachfolger des Kanzlers muß einfach in die ganz ungeschmälerte Machtstellung rücken, welche Bismarck inne hat, und eine Minderung dieser Macht im Lauf der Zeit darf nicht ins Auge gefaßt werden.

2. Der Nachfolger des Kanzlers muß Soldat sein.

3. Er muß so unbedingt das Vertrauen des Kaisers besitzen, daß jedermann es weiß.

4. Um dem Kapital Bismarck von Anfang an das Gleichgewicht zu halten, bedarf es beim Antritt des Amts im Landtag und im Reichstag der Erklärung, daß es die Absicht sei, auf dem begonnenen Wege zu bleiben.

Zur Ausführung und Begründung dieser vier Sätze sei folgendes gesagt:

ad 1. Die Einigkeit der deutschen Fürsten muß den Grundpfeiler der deutschen Einheit bilden, und die deutschen Fürsten ertragen viel leichter einen mächtigen Kanzler wie einen mächtigen Kaiser. Nur wenn die Fürsten einig, besitzt die Reichsregierung Macht, zumal dem Reichstag und dessen mehr oder minder liberalen Neigungen gegenüber. Der Reichstag gewährt durch die Öffentlichkeit (es ist die best- und meistgehörte Stimme im Land) das sicherste Mittel zur Bewältigung partikularistischer Neigungen, aber wenn die Reichsregierung unabhängig vom Reichstag bleiben will, darf sie den letzteren nicht zur Behauptung ihrer Stellung notwendig haben. Alle deutschen Fürsten, ich glaube, es darf keiner ausgenommen werden, haben den Verlust der Souveränität noch nicht verschmerzt. Dem Wortlaut der Verfassung gemäß sind sie nur Verbündete des Königs von Preußen; sie

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