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Ein Arbeiterkind in einer Stadt im Harz über das Auslaufen des Sozialistengesetzes (30. September 1890)

Nach zwölf Jahren behördlicher Unterdrückung war das Auslaufen des Sozialistengesetzes um Mitternacht am
30. September 1890 für die Sozialdemokraten ein bedeutsames Ereignis. (Seit Januar 1890 war bekannt gewesen, dass das Gesetz an jenem Tag auslaufen würde, weil der Reichstag seine Verlängerung abgelehnt hatte.) Diese Passage stammt aus den Erinnerungen von August Winnig, der als Kind den Countdown in einer überfüllten kleinstädtischen Schänke im mitteldeutschen Harz miterlebte. Der Bericht vermittelt die tiefe Symbolik und Emotionalität, mit denen die lange unterdrückten Sozialisten den Anlass begingen. Den anwesenden Polizisten fehlte nun die gesetzliche Befugnis, in die Feierlichkeiten einzugreifen; wie Winnigs lakonischer Schlusskommentar anzudeuten scheint, dienten sie nicht einmal mehr als Zielscheibe des Spotts oder Hasses.

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Das „Bunte Lamm“ lag mitten in der Stadt und war nur eine gewöhnliche Schankwirtschaft. Die Feier mußte darum in der Wirtsstube stattfinden, die jedoch sehr groß war und mehr als hundert Leute aufnehmen konnte. Als wir ankamen, war die Stube schon voller Männer. In einer Ecke, von der man die ganze, etwas winklige Stube übersehen konnte, war ein kleiner Tisch mit einer weißen Decke aufgestellt, während die anderen Tische unbedeckt waren. Hinter dem Tische, an der Wand, hing eine große rote Fahne mit einer Inschrift aus aufgeklebtem Goldpapier, sie lautete: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Links und rechts von der Fahne hingen zwei Bilder, auf denen ebenfalls rote Fahnen gezeichnet waren. Auf dem einen war ein Mann abgebildet, der den Fuß auf ein Tier setzte, das offenbar von einem danebenstehenden Postament gestürzt war, und der um den Leib eine rote Schärpe und in der Hand eine rote Fahne trug. Auf dem anderen Bild war eine weißgekleidete Frauengestalt zu sehen, die eine rote Fahne in der Hand hielt; darunter stand ein langer Spruch, den ich jedoch nicht lesen konnte. An der gegenüberliegenden vorspringenden Ecke war eine große Wanduhr aufgehängt, die Zwölf auf dem Zifferblatt war mit einem goldenen Stern überklebt, seitwärts von der Uhr hing eine Küchenlampe, deren Schein offenbar die Uhr beleuchten sollte, was aber nur mangelhaft gelungen war. [ . . . ]

Es kamen zwei Polizeidiener in die Stube und gingen zu dem gedeckten Tisch, in dessen Nähe Lambert Schmitt saß. Sie sprachen mit ihm und ließen sich von ihm ein Schriftstück zeigen. Darauf schwiegen sie und setzten sich in der Nähe des Tisches nieder.

Danach klingelte Lambert Schmitt mit einer kleinen Glocke und sagte, der Unterhaltungsabend werde jetzt beginnen. Man möge sich einstweilen nur selbst nach Belieben unterhalten, die Hauptsache könne erst nach zwölf Uhr gesagt werden. Diese Worte weckten einen kleinen Jubel und mannigfache Zurufe. [ . . . ]

Über Singen und Erzählen rückte der Zeiger der Uhr vor, und bald nahte die Mitternachtsstunde. Je näher die Zeit herankam, umso stiller wurde es, und umso öfter sahen die Männer nach der Wanduhr oder nach ihren Taschenuhren. Endlich stand der Zeiger dicht vor dem glänzenden Stern, der die zwölf verbarg. Längst hatten sich die Gesichter nach dem gedeckten Tische gekehrt, bei dem Lambert Schmitt saß. Der blickte starr nach der Uhr.

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