GHDI logo


Max Webers Reflektionen zur Zusammenarbeit der Nationalliberalen und Bismarcks während der 1860er und 1870er Jahre (Mai 1918)

Die gemeinsame Ablehnung der autokratischen Politik Bismarcks während des Verfassungskonflikts in den 1860er Jahren fand ein Ende, als 1867 die Nationalliberale Partei gegründet wurde, um die nach Auffassung ihrer Parteispitze „sterile“ Opposition der Fortschrittspartei zu überwinden. Ab 1867 konkurrierten die „nationalen“ und „linken“ Liberalen um die politische Gefolgschaft der protestantischen Mittelschicht Deutschlands. Die Nationalliberalen wurden schließlich in der Ära der Reichsgründung zu Bismarcks wichtigsten Stützen. Doch 1878 beschloss Bismarck aus mehreren Gründen, mit den Nationalliberalen zu brechen und konservative Bündnisse zu pflegen. In diesem Dokument äußert sich der berühmte Soziologe Max Weber (1864-1920), ein aufmerksamer Beobachter des Zeitgeschehens, sehr kritisch über Bismarcks Pyrrhussieg über die Nationalliberalen. Tatsächlich war Bismarck mehr an einer Spaltung und Zähmung dieser Partei interessiert als an ihrer Zerschlagung. Ab Ende der 1880er Jahre spielten die Nationalliberalen wieder eine zentrale Rolle in Bismarcks so genanntem „Kartell der staatserhaltenden Parteien“.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 2


Niemals hatte ein Staatsmann, der nicht aus dem Vertrauen des Parlaments heraus an das Ruder gekommen war, eine so leicht zu behandelnde und dabei so zahlreiche politische Talente umfassende Partei als Partnerin wie Bismarck von 1867 bis 1878. Man mag die politischen Ansichten der damaligen nationalliberalen Führer ablehnen. Auf dem Gebiet der hohen Politik und an beherrschender Energie des Geistes überhaupt darf man sie natürlich nicht an Bismarck selbst messen, neben dem selbst ihre besten als Mittelmaß wirken, wie schließlich ja alle anderen Politiker des Inlands erst recht und die meisten des Auslands ebenso. Ein Genie erscheint nun einmal günstigenfalls alle Jahrhunderte. Aber wir können dem Schicksal danken, wenn es die Leitung unserer Politik im Durchschnitt in die Hände von Politikern des Niveaus gelegt hätte und künftig legen würde, wie sie damals in jener Partei existierten. Es ist wahrlich eine der dreistesten Entstellungen der Wahrheit, wenn trotzdem politische Literaten bei uns der Nation einreden: »Das deutsche Parlament habe bisher große politische Talente nicht hervorzubringen vermocht.« Und es ist jämmerlich, wenn solchen Vertretern des Parlamentarismus, wie Bennigsen, Stauffenberg, Völk, oder auch der Demokratie, wie der preußische Patriot Waldeck, durch die gegenwärtige subalterne Literaten-Mode die Qualität von Repräsentanten »deutschen Geistes« abgesprochen wird, der in der Paulskirche mindestens ebenso stark lebte wie in der Bürokratie und besser als in den Tintenfässern dieser Herren. – Der große Vorzug jener Politiker aus der Blütezeit des Reichstages war zunächst: Sie hatten ihre eigenen Schranken und die Irrtümer ihrer Vergangenheit kennengelernt und anerkannten die ungeheure geistige Überlegenheit Bismarcks. Nirgends hat er leidenschaftlichere ganz persönliche Bewunderer gehabt als in ihren Reihen, gerade auch in denen der späteren Sezessionisten. Und für ihr persönliches Niveau sprach vor allem eines: das völlige Fehlen allen Ressentiments gegenüber seiner überlegenen Größe. Davon wird jeder, der sie gekannt hat, alle irgend erheblichen Persönlichkeiten unter ihnen völlig freisprechen. Für den, der über die Vorgänge unterrichtet ist, grenzt es schlechterdings an Verfolgungswahn, wenn Bismarck ernstlich die Vorstellung nährte, gerade diese Politiker hätten irgendwann daran gedacht, ihn zu »stürzen«. Stets erneut habe ich aus dem Munde ihrer Führer gehört: Bestände irgendwelche Chance, daß für die höchste Stelle stets ein neuer Bismarck erstünde, dann wäre der Cäsarismus: die Regierungsform des Genies, die gegebene Verfassung für Deutschland. Das war völlig aufrichtige Überzeugung. Freilich hatten sie mit ihm dereinst die Klingen scharf gekreuzt. Ebendaher kannten sie auch seine Schranken und waren keineswegs geneigt, unmännlich das Opfer ihres Intellekts zu bringen, obwohl sie, bis zur Selbstverleugnung, immer wieder geneigt waren, ihm im Interesse der Vermeidung eines Bruchs entgegenzukommen, – ungleich weiter, als die Rücksicht auf die Stimmung der Wähler es zuließ, welche ihnen darin die Gefolgschaft zu versagen drohten. Einen Kampf um formale Parlamentsrechte mit dem Schöpfer des Reichs scheuten die nationalliberalen Politiker nicht nur deshalb, weil sie voraussahen, daß ein solcher rein parteipolitisch nur dem Zentrum zur Macht verhelfen würde, sondern auch weil sie wußten, daß er Bismarcks eigene Politik ebenso wie das Parlament auf lange hinaus in der sachlichen Arbeit lähmen würde: »Es gelingt nichts mehr«, hieß es bekanntlich in den achtziger Jahren.* Ihre innerste, im internen Kreise oft ausgesprochene Absicht war: durch die Zeit der Herrschaft dieser grandiosen Persönlichkeit im Reich jene Institutionen hindurchzusteuern, auf deren Leistungsfähigkeit nun einmal später, wenn man sich auf Politiker gewöhnlicher Dimensionen würde einrichten müssen, die Stetigkeit der Reichspolitik allein beruhen könne. Zu diesen Institutionen zählten sie allerdings auch ein positiv mitbestimmendes und dadurch die großen politischen Begabungen anziehendes Parlament und: starke Parteien.



* Überschrift eines Artikels des Berliner Zentrumorgans »Germania« vom 28.4.1889. [Diese Fußnote stammt aus Gerhard A. Ritter, Hg., Das Deutsche Kaiserreich 1871-1914. Ein historisches Lesebuch, 5. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1992, S. 230.]

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite