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Wahlgesetz für den Reichstag des Norddeutschen Bundes (31. Mai 1869)

Nach dem Ausschluss Österreichs aus dem deutschen Nationalstaat 1866 erlangte Preußen praktisch die Vorherrschaft im Norddeutschen Bund. Ende 1867 waren die Deutschen bereits zweimal zu den Urnen gegangen, um Abgeordnete zum Norddeutschen Reichstag zu wählen. Eine Gesetzesflut folgte bald darauf, angefangen mit einer neuen Verfassung und gefolgt von unzähligen liberalen Reformen. Doch ein formelles Wahlrecht wurde erst am 31. Mai 1869 verabschiedet. Dieses Wahlrecht wurde in der Kurzform als „allgemein“ bezeichnet, obwohl es ausdrücklich Frauen sowie Männer unter 25 Jahren ausschloss. Es wurde außerdem – mit einem unterschiedlichen Maß an Genauigkeit – als gleich, direkt und geheim bezeichnet. Das Gesetz legte die Zahl der Mandate im Reichstag im Verhältnis zur Einwohnerzahl der Mitgliedstaaten fest, traf jedoch keine Vorkehrungen für die Neueinteilung von Wahlkreisen aufgrund von Bevölkerungsveränderungen. Die Bestimmungen dieses Gesetzes wurden 1871 auf das Deutsche Reich ausgedehnt und blieben bis 1918 in Kraft.

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§ 1. Wähler für den Reichstag des Norddeutschen Bundes ist jeder Norddeutsche, welcher das fünfundzwanzigste Lebensjahr zurückgelegt hat, in dem Bundesstaate, wo er seinen Wohnsitz hat.

§ 2. Für Personen des Soldatenstandes des Heeres und der Marine ruht die Berechtigung zum Wählen solange, als dieselben sich bei der Fahne befinden.

§ 3. Von der Berechtigung zum Wählen sind ausgeschlossen:

1) Personen, welche unter Vormundschaft oder Kuratel stehen;

2) Personen, über deren Vermögen Konkurs- oder Fallitzustand gerichtlich eröffnet worden ist und zwar
während der Dauer dieses Konkurs- oder Fallit-Verfahrens;

3) Personen, welche eine Armenunterstützung aus öffentlichen oder Gemeinde-Mitteln beziehen oder im
letzten der Wahl vorhergegangenen Jahre bezogen haben;

4) Personen, denen in Folge rechtskräftigen Erkenntnisses der Vollgenuß der staatsbürgerlichen Rechte
entzogen ist, für die Zeit der Entziehung, sofern sie nicht in diese Rechte wieder eingesetzt sind.

Ist der Vollgenuß der staatsbürgerlichen Rechte wegen politischer Vergehen oder Verbrechen entzogen, so
tritt die Berechtigung zum Wählen wieder ein, sobald die außerdem erkannte Strafe vollstreckt, oder durch
Begnadigung erlassen ist.

§ 4. Wählbar zum Abgeordneten ist im ganzen Bundesgebiete jeder Norddeutsche, welcher das fünfundzwanzigste Lebensjahr zurückgelegt und einem zum Bunde gehörigen Staate seit mindestens einem Jahre angehört hat, sofern er nicht durch die Bestimmungen in dem § 3 von der Berechtigung zum Wählen ausgeschlossen ist.

§ 5. In jedem Bundesstaate wird auf durchschnittlich 100 000 Seelen derjenigen Bevölkerungszahl, welche den Wahlen zum verfassunggebenden Reichstage zugrunde gelegen hat, Ein Abgeordneter gewählt. Ein Überschuß von mindestens 50 000 Seelen der Gesammtbevölkerung eines Bundesstaates wird vollen 100 000 Seelen gleich gerechnet. In einem Bundesstaate, dessen Bevölkerung 100 000 Seelen nicht erreicht, wird Ein Abgeordneter gewählt.

Demnach beträgt die Zahl der Abgeordneten 297 und kommen auf Preußen 235, Sachsen 23, Hessen 3, Mecklenburg-Schwerin 6, Sachsen-Weimar 3, Mecklenburg-Strelitz 1, Oldenburg 3, Braunschweig 3, Sachsen-Meiningen 2, Sachsen-Altenburg 1, Sachsen-Koburg-Gotha 2, Anhalt 2, Schwarzburg-Rudolstadt 1, Schwarzburg-Sondershausen 1, Waldeck 1, Reuß ältere Linie 1, Reuß jüngere Linie 1, Schaumburg-Lippe 1, Lippe 1, Lauenburg 1, Lübeck 1, Bremen 1, Hamburg 3.

Eine Vermehrung der Zahl der Abgeordneten in Folge der steigenden Bevölkerung wird durch das Gesetz bestimmt.

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