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Vom „Du” zum „Sie”: Ein bürgerlicher Sozialreformer über Umgangsformen am Arbeitsplatz (1880-1910)

Die hierarchischen Beziehungen zwischen ungelernten und Facharbeitern einerseits sowie ihren Vorgesetzten andererseits wurden auch durch eine sprachliche Besonderheit des Deutschen untermauert: der Unterscheidung zwischen der vertrauten (Du) und förmlichen Anrede (Sie). Vorgesetzte benutzten ursprünglich „Du“, was einen herablassenden Beiklang hatte, behalfen sich dann mit diversen Abstufungen von Förmlichkeit, um letztlich auch Arbeiter mit dem förmlichen (und respektvolleren) „Sie“ anzureden.

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Der Hochschule entschlüpft, lernte ich als junger Fabrikvolontär, daß der Gebietende den Arbeiter mit dem traulichen „Du“ anredet; schwachgemute Halbgewaltige halfen sich mit „Man“, „Er“ und „Ihr“ oder mit einem Kompromißgemurmel durch, wieder andere verstanden es, mit kunstreichen Wendungen die direkte Anrede zu vermeiden. Das „Ihr“ hielt sich lange Zeit, bis das „Sie“ verschämt sich auftat, um schließlich siegreich durchzubrechen; ich entsinne mich noch deutlich des Anlasses, da mir das „Sie“ zum erstenmal klar und glatt über die Lippen floß. Und wenn Arbeiter beim Chef im Bureau erscheinen durften oder mußten, blieben sie an der Tür stehen in Wahrung gebührlicher Distanz; späterhin wurde es ihnen erlaubt, näherzutreten, aber eine Sitzgelegenheit fand sich nicht, ja, um höflichen Anwandlungen oder sonstigen Zwischenfällen vorzubeugen, entfernte besondere Feinfühligkeit vor der Audienz alle unbenützten Stühle. Aber auf die Dauer ließ sich die Bereicherung des Mobiliars nicht umgehen; auf die Stühle folgte der Tisch, erst der gesonderte für die Arbeiter, dann der gemeinschaftliche, an dem, umgeben von seinen Obersten, der Chef die Sitzung mit den Arbeitern eröffnet: „Meine Herren!“ In diesen und ähnlichen intimen Momentbildchen haben wir den farbigen Abglanz des Lebens, das draußen an dem sich erbreiternden Strome der Sozialreform aufwachte.



Quelle: Karl Bittmann, „Nationalgefühl und Arbeiterschaft“ (1911), in Ausgewählte kleinere Schriften. Jena, 1920, S. 60-66.

Abgedruckt in Jens Flemming, Klaus Saul, und Peter-Christian Witt, Hg., Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871-1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1977, S. 112-13.

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