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Katharina Rathaus, „Charleston. Jede Zeit hat den Tanz, den sie verdient” (1926)


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Charleston. Jede Zeit hat den Tanz, den sie verdient


Der Walzer ist tot — und alle Wiederbelebungsversuche mißglücken und müssen mißglücken; denn die Zeiten haben sich geändert und naturnotwendig mit ihnen die Tänze. Heute, wo aus Fords Fabriken jede Minute ein neues fertiges Auto rollt, wo „Valencia“ und der letzte aktuelle Schlager gleichzeitig in der Weltstadt und im kleinsten Provinznest gespielt werden, wo das Radio uns und den Bewohnern von Finsterwalde ermöglicht, zur selben Zeit den Beifall zu kontrollieren, den der letzte Charleston im Savoy-Hotel in London, im tonangebenden Tanzpalast Berlins oder in Paris erntet, heute sind die Bewegung und der Rhythmus des Tanzes andere als zur gemütlichen Zeit des seligen Strauß. Sie sind geboren aus der neuen Bewegtheit des Lebens, seinem gepeitschten und jagenden Tempo! Sie sind des neuen Geistes voll, und man soll das Neue nicht gleich nach gut oder schlecht werten! Das Wort von der „guten alten Zeit“ ist geprägt aus der Furcht vor dem Neuen, und die Skepsis gegenüber neuen Tänzen entspricht meistens — dem Unvermögen, sie zu tanzen. Und wie das „Neue“ stets Parole der Jugend ist, so klammert sich auch das neue Geschlecht mit heißer Begeisterung an die neuen Tänze. Es fühlt, daß von den abgegessenen Schüsseln des alten Europa seinem Blute keine neue Nahrung serviert wird, daß das ausgebrannte Temperament europäischer Kulturzentren seinem Körper keinen ungeahnten, aufwühlenden Rhythmus vermitteln kann. Mechanisierung und Demokratisierung des Lebens zwingen den Gliedern andere, neue Bewegungen ab. Statt im Zotteltrab Tänze zu tanzen, deren Geist einer verflossenen Aera entstammt, holt die junge Generation ihre Inspirationen aus der ursprünglichen Bewegung primitiver Völker, aus der ungekünstelten Wiedergabe rhythmisch-musikalischer Erlebnisse naiver Gemüter. Landen so erlauschte Pas, vielleicht Bewegungsfragmente wilder Völker, in vielen Retorten verschmolzen mit den Resten abendländischer Kultur, geglüht in den Hochöfen modernster Zivilisation, in letzte Form gegossen durch Stilgefühl begabter Tänzer und abgekühlt durch die Konventionen unseres demokratisch-bürgerlichen Milieus, als Gesellschaftstänze in Salon und Ballsaal — — — — —, was Wunder, wenn Herzen und Beine ihnen zufliegen, zurasen, zujubeln! Denn zu dem Blute, zu dem Schlage des Herzens spricht der Tanz, nicht zur Vernunft! Vergeblich mühen sich alljährlich die Verbände internationaler Tanzlehrer um die „Erfindung“ neuer Tänze. Alle „erfundenen“ Tänze sind totgeborene Kinder. Sie leben nur flüchtige Tage und Stunden. Sämtliche Tanzlehrer der Welt sind nicht imstande, ihre Kunstprodukte der tanzenden Menge aufzuzwingen, die sich instinktiv gegen eine gekünstelte Vergewaltigung ihrer Bewegung wehrt. Dagegen: der neue, originale Tanz, Terpsichores modernes Gesicht, geschminkt, gepudert und bemalt nach letztem Gebot der Mode, mit ihrem Bubenkopf nach neuestem Schnitt, ihrem Crêpe-de-Chine-Fähnchen knapp bis zum Knie ... das braucht keine Reklame. Dieser Tanz wirbt für sich selbst, dringt allein durch, entladet sich unter mancherlei grotesken Mißverständnissen unter dem Donner der Jazzband wie ein Gewitter! Er reinigt die Tradition vom Staub der Jahrzehnte, läßt blasierte Tanzfanatiker neu entflammen, zeigt der tanzbegeisterten Menge den Rhythmus, der ihrem Leben, Fühlen, Denken entspricht, und hört auf den Namen „Charleston“.



Quelle: Katharina Rathaus, „Charleston. Jede Zeit hat den Tanz, den sie verdient“, Uhu 3 (1926), S.120-21.

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