Donnerstag, den 26. Februar 1824 [ . . . ]
Wir öffneten darauf die Mappen und schritten zur Betrachtung der Kupfer und Zeichnungen. Goethe verfährt hiebei in bezug auf mich sehr sorgfältig, und ich fühle, daß es seine Absicht ist, mich in der Kunstbetrachtung auf eine höhere Stufe der Einsicht zu bringen. Nur das in seiner Art durchaus Vollendete zeigt er mir und macht mir des Künstlers Intention und Verdienst deutlich, damit ich erreichen möge, die Gedanken der Besten nachzudenken und den Besten gleich zu empfinden. »Dadurch«, sagte er heute, »bildet sich das, was wir Geschmack nennen. Denn den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten. Ich zeige Ihnen daher nur das Beste; und wenn Sie sich darin befestigen, so haben Sie einen Maßstab für das übrige, das Sie nicht überschätzen, aber doch schätzen werden. Und ich zeige Ihnen das Beste in jeder Gattung, damit Sie sehen, daß keine Gattung gering zu achten, sondern daß jede erfreulich ist, sobald ein großes Talent darin den Gipfel erreichte. Dieses Bild eines französischen Künstlers z. B. ist galant wie kein anderes und daher ein Musterstück seiner Art.«
[ . . . ]
Mittwoch, den 14. April 1824
[ . . . ]
Gleicherweise gibt es unter deutschen Frauenzimmern geniale Wesen, die einen ganz vortrefflichen Stil schreiben, so daß sie sogar manche unserer gepriesenen Schriftsteller darin übertreffen.
Die Engländer schreiben in der Regel alle gut, als geborene Redner und als praktische, auf das Reale gerichtete Menschen.
Die Franzosen verleugnen ihren allgemeinen Charakter auch in ihrem Stil nicht. Sie sind geselliger Natur und vergessen als solche nie das Publikum, zu dem sie reden; sie bemühen sich klar zu sein, um ihren Leser zu überzeugen, und anmutig, um ihm zu gefallen.
Im ganzen ist der Stil eines Schriftstellers ein treuer Abdruck seines Innern; will jemand einen klaren Stil schreiben, so sei es ihm zuvor klar in seiner Seele; und will jemand einen großartigen Stil schreiben, so habe er einen großartigen Charakter.«
[ . . . ]