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Bismarck erklärt dem britischen Botschafter, Deutschland hätte alle legitimen Ziele erreicht ( 11. Februar 1873)

Der folgende Text ist ein Auszug aus einem Brief von Lord Odo Russell (1829-1884), dem Botschafter Großbritanniens in Deutschland von 1872 bis 1884, an den britischen Außenminister Lord Granville. Russell war angeblich „Bismarcks Lieblingsengländer” und dieser Bericht lässt auf die Vertrautheit des Verhältnisses zwischen den beiden Männern schließen. In diesem Teil seines Briefwechsels beschreibt Russell die Bemühungen Bismarcks, jegliche Vorstellungen zu zerstreuen, dass Deutschland eine weitere Expansion wünsche oder eine Seestreitmacht aufzubauen beabsichtige. Dies entsprach Bismarcks häufigen Erklärungen, dass Deutschland nach 1871 eine „gesättigte Macht“ sei. Man fragt sich allerdings, ob Russell selbst die vielen unaufrichtigen Behauptungen glaubte, die Bismarck im Laufe dieser Unterredung aufstellte, darunter die schamlose Lüge, er bevorzuge ein System ministerieller Verantwortlichkeit, wie England es praktiziere.

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Vertraulich.
Berlin, 11. Februar 1873.

Sehr geehrter Lord Granville,

Prinz Bismarck bat mich heute Abend vorbeizukommen und mit ihm in seinem Salon eine Pfeife zu rauchen. Dies tat ich und fand ihn allein vor. Er sagte, er wünsche mit mir über verschiedene Themen zu sprechen. Doch da er es in seinem Umgang mit mir bevorzuge, gänzlich freimütig zu sprechen statt mit der diplomatischen Zurückhaltung, welche die große Angst vor unserem Blaubuch den Außenministern in ihren Gesprächen mit englischen Diplomaten auferlege, hoffte er, ich würde ihm die Gunst erweisen, über seine Worte vertraulich statt offiziell Bericht zu erstatten. –

Zuerst wünschte er meine Zusammenarbeit zu erbitten beim Widerspruch gegen Verleumdung. – Es war ihm gemeldet worden, dass die Königin von Holland*, eine aus ihr eigenen, unverständlichen Gründen bittere Feindin Preußens und der deutschen Einheit, während ihrer zahlreichen Besuche in England erfolgreich die Idee verbreitet hatte, dass Preußen die Niederlande zu annektieren suchte mit dem Ziel, Kolonien und eine Flotte für Deutschland zu erwerben [ . . . ].

Er begehre weder Kolonien noch Flotten für Deutschland. – Kolonien wären seiner Meinung nach nur ein Grund für Schwäche, weil Kolonien nur mit einer starken Kriegsflotte verteidigt werden könnten, – und Deutschlands geografische Lage erfordere seine Entwicklung zu einer Seemacht ersten Ranges nicht. Für Deutschland sei eine Flotte ausreichend, die Seestreitkräften wie denen Österreichs, Ägyptens, Hollands und vielleicht Italiens gewachsen wäre, – kaum allerdings denen Russlands, – aber es könnte nicht im deutschen Interesse liegen, solange es noch keine Kolonien habe, mit Seemächten wie England, Amerika oder Frankreich zu rivalisieren. – Viele Kolonien seien ihm angeboten worden, – er habe sie zurückgewiesen und wünschte lediglich per Vertrag Kohlenstationen von anderen Ländern zu erwerben.

Deutschland sei seiner Ansicht nach jetzt groß und mächtig genug, und selbst Kaiser Wilhelms unstillbares Verlangen nach weiteren Gebieten hätte ihn nicht dazu verleitet, den Besitz der Niederlande anzustreben.



* Königin Sophie der Niederlande (1818–1877), Gemahlin Wilhelms III. Eine ausgezeichnete Informationsquelle zu „la reine rouge” ist Lady Burghelere, A Great Lady’s Friendships: Letters to Mary, Marchioness of Salisbury, Countess of Derby, 1862–1890 (London, 1933). (Fußnote stammt aus: Paul Knaplund, Hg., Letters from the Berlin Embassy, 1871-1874, 1880-1885 [Briefe aus der Botschaft in Berlin, 1871-1874, 1880-1885], Washington, D.C.: USGPO, 1944, S. 87-89.)

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