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Das Sozialistengesetz (21. Oktober 1878)

Das 1878 verabschiedete Sozialistengesetz war das bedeutendste Repressionsgesetz während Bismarcks Kanzlerschaft. Bismarck, der aus seiner Abneigung gegen die Lehren des Sozialismus nie ein Hehl gemacht hatte, unternahm mehrere Versuche, den Anstieg der deutschen Sozialdemokratie in den 1870er Jahren zu beschneiden – beispielsweise durch Beschränkungen der Presse und der Überarbeitung des deutschen Strafgesetzbuchs. Doch politische Gegner widerstanden fast allen dieser Maßnahmen erfolgreich, und die Zahl der für sozialistische Kandidaten in Reichstagswahlen abgegebenen Stimmen nahm weiterhin zu. Dann ereigneten sich im Mai und Juni 1878 zwei Attentatsversuche auf Kaiser Wilhelm I., der im zweiten Anschlag schwer verletzt wurde. Bismarck wies der Sozialdemokratischen Partei (SPD) wider besseres Wissen die Schuld zu. Er kündigte unmittelbar danach neue Reichstagswahlen an und half, im Sommer 1878 eine radikal antisozialistische Kampagne ins Werk zu setzen. Das neu gewählte Parlament war konservativer als das vorangegangene und verabschiedete das unten wiedergegebene Gesetz am 21. Oktober 1878. Es verbot alle sozialdemokratischen Vereine, Versammlungen und Zeitungen. Da jedoch die Reichstagsfraktion der SPD nicht aus dem Parlament ausgeschlossen worden war, bot das Gesetz der Partei ein Forum für fortwährende Agitation. Ergänzt wurde dies durch ein Untergrundnetzwerk von Agenten, Druckerpressen und Freizeitvereinen, welche die sozialistische Botschaft heimlich verbreiteten. Trotzdem verurteilten die Strafbehörden zwischen 1878 und dem Ablauf des Gesetzes am 30. September 1890 etwa 1.500 Menschen zu Gefängnisstrafen von insgesamt mehr als 800 Jahren. Die Erinnerungen an die in dieser „heldenhaften Zeit“ erduldete Unterdrückung und Entbehrung trugen bei den Sozialdemokraten zu einem starken Gefühl der Solidarität und Verbundenheit bei. Bismarcks antisozialistische Kampagne zählte zu seinen größten politischen Fehlkalkulationen.

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Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21. Oktober 1878


§ 1. Vereine, welche durch sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezwecken, sind zu verbieten.

Dasselbe gilt von Vereinen, in welchen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zu Tage treten.

Den Vereinen stehen gleich Verbindungen jeder Art.

§ 2. Auf eingetragene Genossenschaften findet im Falle des § 1 Abs. 2 der § 35 des Gesetzes vom 4. Juli 1868, betreffend die privatrechtliche Stellung der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, (Bundes-Gesetzblatt, S. 415 ff.) Anwendung.

Auf eingeschriebene Hülfskassen findet im gleichen Falle der § 29 des Gesetzes über die eingeschriebenen Hülfskassen vom 7. April 1876 (Reichs-Gesetzblatt, S. 125 ff.) Anwendung.

§ 3. Selbständige Kassenvereine (nicht eingeschriebene), welche nach ihren Statuten die gegenseitige Unterstützung ihrer Mitglieder bezwecken, sind im Falle des § 1 Abs. 2 zunächst nicht zu verbieten, sondern unter eine außerordentliche staatliche Kontrole zu stellen.

Sind mehrere selbständige Vereine der vorgedachten Art zu einem Verbande vereinigt, so kann, wenn in einem derselben die im § 1 Abs. 2 bezeichneten Bestrebungen zu Tage treten, die Ausscheidung dieses Vereins aus dem Verbande und die Kontrole über denselben angeordnet werden.

In gleicher Weise ist, wenn die bezeichneten Bestrebungen in einem Zweigvereine zu Tage treten, die Kontrole auf diesen zu beschränken.

§ 4. Die mit der Kontrole betraute Behörde ist befugt:

1. allen Sitzungen und Versammlungen des Vereins beizuwohnen;
2. Generalversammlungen einzuberufen und zu leiten;
3. die Bücher, Schriften und Kassenbestände einzusehen, sowie Auskunft über die Verhältnisse des Vereins zu erfordern;
4. die Ausführung von Beschlüssen, welche zur Förderung der im § 1 Abs. 2 bezeichneten Bestrebungen geeignet sind, zu untersagen;
5. mit der Wahrnehmung der Obliegenheiten des Vorstandes oder anderer leitender Organe des Vereins geeignete Personen zu betrauen;
6. die Kassen in Verwahrung und Verwaltung zu nehmen.

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