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Bismarcks Rede zur „Polenfrage” vor dem preußischen Abgeordnetenhaus (28. Januar 1886)

Bismarcks Kulturkampf gegen die katholische Kirche umfasste eine entschlossene Anstrengung, den polnischen Nationalismus in Preußens Ostprovinzen zu schwächen – und schien zeitweise von diesen Bemühungen vorangetrieben. Der unmittelbare Hintergrund für diese lange Rede war ein brutales Vorgehen im März und Juli 1885, durch das 48.000 Polen und polnische Juden aus diesen Provinzen deportiert wurden. (Viele der Ausgewiesenen hatten jahrelang in Preußen gelebt, waren jedoch keine Staatsbürger geworden.) Diese Aktionen läuteten eine neue und härtere Phase in der preußischen Ostmarkenpolitik ein, die sich nach 1900 fortsetzte. Wie der Historiker Richard S. Levy angemerkt hat, ist die folgende Rede typisch für Bismarck: Sie war frei gehalten, nicht nach einem vorbereiteten Text; sie „strotzt vor Anspielungen und Drohungen“, liefert jedoch keine Details zur Politik. Bismarcks Absicht liegt darin, die Polen als Aggressoren erscheinen zu lassen. Zu diesem Zweck malt er den polnisch-deutschen Konflikt als einen gigantischen Kampf, in dem „alles Gute von der deutschen Seite herrührt, alle böse Absicht den Polen zufällt.“

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Der Passus der Thronrede, an welchen der uns heute beschäftigende Antrag anknüpft, enthält den Ausdruck der Überzeugung der Königlichen Regierung, daß in den Grundsätzen, nach welchen seit dem Jahre 1840 in den Landesteilen, deren Bevölkerung polnisch spricht, regiert und verwaltet worden ist, eine Änderung absolut notwendig sei. Wir haben durch die Geschichte die Erbschaft überkommen — Sie werden verzeihen, wenn ich bei einer Frage, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit hat, auch einen Rückblick auf die Vergangenheit tue — wir haben die Erbschaft überkommen, uns mit zwei Millionen polnisch sprechender Untertanen, so gut wir können, auf denselben Gebieten, welche die Grenzen des Preußischen Staates umschließen, einzuleben. Wir haben diese Situation nicht gemacht; unsere Politik kann von sich dasselbe sagen, was, ich weiß nicht mehr, auf welcher Forstakademie, geschrieben stand: Wir ernten, was wir nicht gesäet haben, wir säen, was wir nicht ernten werden.

So stehen wir auch zu der Vergangenheit, die vor 1815 liegt. Das Jahr 1815 hat dem Preußischen Staat eine Grenze geschaffen, hinter die er unter keinen Umständen zurückgehen kann; er bedarf dieser Grenze zur Verbindung seiner Provinzen, zur Verbindung zwischen Breslau und Königsberg, zu seinem Verkehrsleben sowohl wie zu seiner Verteidigung und seiner Sicherheit. [ . . . ]

Im Jahre 1815 hat man zuerst sich die Schwierigkeit der Situation, in die man eintrat, nicht vergegenwärtigt, wohl hauptsächlich, weil damals auf die Stimmung der Einwohner mehr Gewicht gelegt wurde, als auf die der Staatsmänner. Die Staatsmänner, die 1815 bei uns am Ruder standen, der Fürst v. Hardenberg in erster Linie, und, ich glaube, damals der erste Präsident der Posenschen Regierung, Herr v. Zerboni, der bedeutende Besitzungen in Südpreußen jenseits der heutigen Grenze besaß, lebten noch mehr unter dem Eindruck der kurz vorher stattgehabten Verhandlungen, in welchen Preußen ein größeres polnisches Gebiet erstrebt hatte. Herr v. Zerboni besaß große Güter in demjenigen Teil von Südpreußen, welcher nicht wieder zu Preußen gekommen war. Der Wunsch, der damals vorherrschte, vielleicht bei einem späteren Ausgleich noch eine weitere Verrückung unserer Ostgrenze gegen die Weichsel hin zu gewinnen, der Wunsch, zu diesem Behufe in der polnischen Bevölkerung der zum Königreich Polen geschlagenen Landesteile Propaganda für Preußen zu machen, hat einigermaßen die Sprache diktiert, die der Fürst v. Hardenberg damals dem Könige, seinem Herrn, den neu erworbenen polnischen Untertanen gegenüber angeraten hat. Es war das eine Politik, die wir heutzutage gewiß mißbilligen können; sie war ungeschickt. Sie hatte indessen damals zu keinem vertragsmäßigen Abkommen irgendeiner Art geführt. Die Proklamationen, mit denen König Friedrich Wilhelm III. Besitz von den ihm wieder zugefallenen Teilen Südpreußens ergriffen hat, enthalten die Kundgebung der Absichten des Königs, die Kundgebung der Grundsätze, nach welchen er zu regieren gedachte. Eine Verpflichtung, diese Grundsätze niemals zu ändern, wie auch immer seine polnischen Untertanen sich benehmen könnten, ist der König in keiner Weise eingegangen (Oho! bei den Polen), und die Versprechungen, die ehrlich vom Könige gegeben, von seinen Dienern vielleicht nicht ganz in derselben Stimmung gemeint worden, sind seitdem durch das Verhalten der Bewohner dieser Provinz vollständig hinfällig und null und nichtig geworden. (Lebhafter Widerspruch bei den Polen. Sehr wahr! rechts.) Ich gebe meinesteils keinen Pfifferling auf irgendeine Berufung auf die damaligen Proklamationen. (Große Unruhe bei den Polen und im Zentrum.)

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