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Der US-Botschafter in Berlin preist die Verfassung des Norddeutschen Bundes (1. November 1867)

Dieses Dokument ist die Abschrift eines handgeschriebenen Berichts des US-Botschafters beim Norddeutschen Bund, George Bancroft (1800-1891). Bancroft ist bekannter als einer der fähigsten Historiker der Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert, doch er kannte auch Deutschland sehr gut. Bancroft hatte 1820 an der Universität Göttingen promoviert und von 1867 bis 1874 in Berlin als Diplomat gedient. In diesem Brief lobt er die Verfassung des Norddeutschen Bundes, die er mit dem Gegenstück in seinem eigenen Land vergleicht. Er hebt die Ähnlichkeiten der beiden Verfassungen hervor, vergleicht den US-Senat mit dem Bundesrat und das US-Repräsentantenhaus mit dem deutschen Reichstag. Bancroft verweist zu Recht auf die beträchtliche Menge an Gesetzen, die der Reichstag 1867 verabschieden konnte. Seine Bewunderung für die Leistungen der Deutschen trübt allerdings manchmal sein Urteil. Hier versäumt er es beispielsweise, Preußens faktische Hegemonie im Bundesrat zu erwähnen oder das Fehlen eines Grundrechtskatalogs. Er übersieht zudem grundlegende Unterschiede, wenn er die Stellung des preußischen Königs mit der des US-Präsidenten vergleicht

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Sir:

Das Interesse an einem derzeitigen Aufenthalt in Berlin wird unermesslich erhöht durch die Gelegenheit, den Fortgang der größten Revolution dieses Jahrhunderts zu beobachten. Allein die Siege Napoleons vor dem Frieden von Tilsit können mit der erfolgreichen Schnelligkeit des kurzen preußischen Feldzugs von 1866 verglichen werden. Das von Napoleon eingeführte politische System hatte keine Unterstützung im Wesen der Dinge. Es verfiel und stürzte nicht nur deshalb vollständig, weil es in Deutschland von unfähigen Personen getragen wurde, sondern weil es sich im Streit mit den stets regen Kräften eines lebhaften Nationalgefühls und der Freiheit tapferer und intelligenter Menschen befand. Der jetzige Zusammenschluss der deutschen Staaten ist die reife Frucht aus 19 Generationen ständigen Leidens und Auseinandersetzungen und daher völlig im Einklag mit den Naturgesetzen. Er stellt so vollendet das gleichzeitige Vorgehen der Regierung und des Volkes dar, dass er gewiss Bestand haben und ihm der gute Wille, das Einverständnis und die nötige Duldung jeder Großmacht in Europa zuteil wird. Das Ergebnis scheint wunderbarer, je länger man es betrachtet. Im Herzen Europas steigt ein geeinter Staat auf mit einer Küste von Russland bis Holland, einer allen anderen europäischen Kontinentalmächten überlegenen Handelsflotte, die nur denen von Großbritannien und den Vereinigten Staaten nachsteht, mit einer Bevölkerung von 30 Millionen, von denen zwei Drittel Protestanten sind, gut lesen und schreiben sowie mit der Waffe umgehen können. Er kommt jeder anderen Regierung auf dem Kontinent gleich an Kultur, Tapferkeit und zukünftigem, wenn auch nicht unmittelbarem Einfluss. Dieser Staat, dessen Existenz beseelt und verbürgt ist durch ein starkes und ständig zunehmendes Gefühl einer uralten und unteilbaren Volkszugehörigkeit, wird noch weiter gestärkt durch dauernde Verteidigungs-, Angriffs- und Handelsverträge mit Fürstentümern, die von weiteren zehn Millionen bewohnt werden; und die Abkommen sind derart beschaffen, dass die Armeen dieser zehn Millionen in Kriegszeiten dem Oberbefehl des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Norddeutschland unterstellt werden und ihre Volksvertreter ihre Mandate in einem gemeinsamen Parlament wahrnehmen sollen, das für alle ein gemeinsames Handelssteuersystem festzulegen hat. Indem die deutsche Union über die militärischen Mittel eines kriegerischen Volkes von 40 Millionen verfügt, fühlt sie sich eines friedlichen Nachbarn Frankreich versichert; in ihrer kompakten Energie steht sie nach Osten hin in einer unabhängigen Stellung; und ist mit Österreich in einer Weise verbunden, dass jenes Reich, wenn es denn sein eigenes Wohlergehen betrachtet, mit ihr Freundschaft anstreben muss.

Dieses wunderbare Ergebnis ist für Amerika von besonderem Interesse, weil es aus der Anwendung der Prinzipien hervorgegangen ist, welche die Verfassungsgeber der Vereinigten Staaten geleitet haben. Die Verfassung Norddeutschlands entspricht in so vieler Hinsicht der unseren, dass sie auf Grundlage eingehender Studien unseres Systems [! – Hg.] formuliert worden sein muss, oder dieselben Unzulänglichkeiten beim Regieren die beiden Länder, ganz für sich, dahin geführt haben, ähnliche politische Grundsätze zu entdecken und anzuwenden.

Wie bei uns gibt es hier eine Zentralregierung, während die Einzelstaaten, 22 an der Zahl, die Befugnisse über innere Angelegenheiten behalten, die nicht übertragen worden sind. Die Einheit der Bewohner für die Gesamtheit ihres Hoheitsgebiets wird wie bei uns durch eine allgemeine, wechselseitige Staatsangehörigkeit begründet, die jedem Bürger aus jedem beliebigen Gebiet die Rechte eines Einheimischen in jedem anderen gewährt. Die der Gesamtregierung übertragenen Zuständigkeiten umfassen, wie bei uns, Einbürgerung, Handel und Verkehr, Maße und Gewichte, Münzrecht, Urheberrechte und Patente, die Armee, die Miliz, die Flotte und das Postwesen. Einige Befugnisse, in Bezug auf die unsere Verfassung weniger ausdrücklich ist, werden direkt übertragen. Die Deutsche Union verfügt über die Regelung des Telegrafenwesens, der Banken und Banknoten sowie der Eisenbahnen für militärische Zwecke und im Interesse des allgemeinen Handels. Sollte eine einzelne Regierung sich als widerspenstig erweisen, verfügt die Gesamtregierung über die umfassendsten Zwangsmaßnahmen – unmittelbar durch den Oberbefehlshaber der Union in Kriegszeiten, nach Beratung mit dem Bundesrat in Friedenszeiten. Die Zwangsmaßnahmen können sogar die Beschlagnahmung von Ländereien und der Einkassierung ihrer Lokalregierungen einschließen.

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