Centralisation oder Föderation? April 1864.
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Die deutsche Zersplitterung beschränkt sich nicht auf das Land, sondern erstreckt sich auf die Leute, und die Uneinigkeit der Geister ist das moralische Hindernis, das der Einheit der Gebiete im Wege steht. Absolutistische, konstitutionelle, sozialistische Bestrebungen werden durch katholische, protestantische, philosophische Anschauungen so vielfältig zerteilt, daß jede Parteigruppirung die widerstrebendsten Elemente in ihrem Schooße trägt. Diese ideelle Zersplitterung muß überwunden werden, wenn die materielle aufhören soll; aber nicht durch Verheimlichung und Vertagung, sondern durch Offenbarung und Ausgleichung der Gegensätze wird die innere Einheit des Volks erzielt, welche allein eine segensreiche Wirkung auf die politische Entwicklung der Nation zu üben vermag.
In Deutschland wie überall heißt die politische Frage, auf ihr Prinzip zurückgeführt: Gottesgnadenthum oder Volkssouveränität, Autorität oder Selbstregierung, Dogma oder Vernunft, Gewalt oder Recht, Knechtung oder Freiheit. Wie man ihn drehen und wenden mag, derselbe Gegensatz kehrt immer wieder, und auf die Form des Gesammtstaats angewandt, heißt er Centralisation oder Föderation. Nicht Monarchie oder Republik, nicht Österreich oder Preußen, nicht Großdeutschland oder Kleindeutschland heißt die Frage der deutschen Einigung ihrem Wesen nach, sondern Centralisation oder Föderation. Wer ein Anhänger des Gottesgnadenthums, der Autorität, des Dogma's, der Gewalt, der Knechtschaft ist, der muß konsequenterweise für die Centralisation stimmen; wer dagegen ein Kämpe der Volkssouveränität, der Selbstregierung, der Vernunft, des Rechts, der Freiheit ist, der muß folgerichtig die Föderation erstreben: denn dort wie hier ist das eine unmöglich ohne das andere. Was das Menschenrecht der Gemeinschaft, was die Gemeindefreiheit dem Einzelstaat gegenüber, das ist die administrative Selbstregierung der Stammesgruppe der Centralgewalt des Gesammtstaats gegenüber. Ohne die Bildung einer verhältnismäßigen Anzahl politischer Centren und intellektueller Wirkungsherde, welche dem schöpferischen Geiste der Nation zu Anhaltspunkten dienen, und durch ihre Gegenwirkung die Centralgewalt vor Willkürherrschaft bewahren, ist die rationelle Organisation eines großen Staates und die freie, gesunde Funktion seiner Kräfte unmöglich. Die innere Thätigkeit der konkreten Gemeinde mit ihren Gruppirungen muß die Grundlage der Verwaltung sein, und nicht das von außen wirkende, abstrakte Regiment des Zentrums. Wie der Staat überhaupt nicht Zweck, sondern Mittel und nur dazu vorhanden ist, dem Individuum die Ausübung seiner Menschenrechte zu garantieren, so ist auch die staatliche Einheit nicht der nationale Zweck, sondern nur das politische Mittel, die Selbstständigkeit der Nation in ihren Stämmen und Gemeinden nach innen wie nach außen sicher zu stellen. Denn das absolute Ziel aller sozialen Einrichtungen ist die Entwicklung der Menschheit, d. h. die Verwirklichung der Humanität durch die Herrschaft des Gemeinwohls – das ist mit einem Wort die Freiheit als die Bahn zur Gerechtigkeit.
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