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Theodor Fontane über den sich wandelnden Geschmack des Theaterpublikums (1878-1889)

Theodor Fontane (1819-1898) wird von vielen als der bedeutendste deutschsprachige Schriftsteller des Realismus im 19. Jahrhundert betrachtet. Doch bevor er sich dem Romanschreiben zuwandte, verfasste er in den 1870er und 1880er Jahren Theaterkritiken für die liberale Vossische Zeitung. In dieser Rolle lernte Fontane die Theaterproduktionen in Berlin sehr gut kennen. Die folgenden Auszüge stammen aus Briefen Fontanes, die er entweder an seinen Sohn oder an Friedrich Stephany sandte, den Herausgeber der Vossischen Zeitung von 1878 bis 1889. Fontane beklagt die überreizte, aber langweilige Rührseligkeit vieler zeitgenössischer Dramen – d.h., bis der Naturalismus sich in der deutschen Schauspielkunst einen Namen machte und seine Anerkennung fand. Fontane verteidigt Henrik Ibsen (1828-1906), den norwegischen Schriftsteller und Dramatiker, der größte Bekanntheit mit seinen Stücken Peer Gynt (1876), Nora oder Ein Puppenheim (1879) und Gespenster (1881) erlangte. Er bringt auch seine Bewunderung für Gerhart Hauptmann (1862-1946) zum Ausdruck, dessen naturalistisches Stück Vor Sonnenaufgang beim Berliner Theaterpublikum Ende 1889 eine skandalträchtige Aufnahme erlebte. Fontane reagiert, indem er sowohl das Publikum selbst als auch die Theaterkritiker verspottet, die sich derart über diesen neuen Theaterstil empörten.

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I. Fontanes Kommentar zu Ifflands Die Jäger (30. Januar 1878)


Fontane störte sich an der Begeisterung des Theaterpublikums für das Wiederaufleben des moralisierenden Dramas Die Jäger (1873) von August Wilhelm Iffland. In einer Kritik der Aufführung vom 30. Januar 1878 schrieb er:

[ . . . ] Der Ton, der durch das ganze Stück hin klingt, ist der der Sentimentalität. Es war dies der Ton der Jahrzehnte, in denen das Stück entstand; daher die große Wirkung desselben in und zu seiner Zeit; aber diese Zeit liegt nun zurück, und so gewiß wir aus den Hexenprozessen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts heraus sind, so gewiß sind wir auch aus den Rührseligkeiten des achtzehnten heraus. [ . . . ] Wir sind entweder viel, viel weiter oder viel, viel mehr zurück, und beides ist ein Vorteil. Nur noch der Philister, mit seinem ewigen Hange, zwischen zwei Stühlen zu sitzen, wird in diesem Stücke nach wie vor seine Rechnung finden. Denn so gut es in seiner Art ist, so gewiß hat es sich überlebt. [ . . . ]



II. Fontanes Kommentar zu Ibsens Gespenster (1889)


Fontane begrüßte die Gründung des Ensembles Freie Bühne und dessen epochemachende erste Spielzeit, die unter anderem Inszenierungen von Henrik Ibsens Gespenster und Gerhard Hauptmanns Vor Sonnenaufgang einschloss. Nach der Premiere von Gespenster am 29. September 1889 schrieb Fontane:


Der Verein »Freie Bühne« eröffnete gestern die Reihe seiner für diesen Winter geplanten acht Vorstellungen auf der Bühne des Lessing-Theaters, und zwar mit Ibsens »Gespenstern«, eine Wahl, die mir in doppelter Hinsicht die richtige zu sein schien: einmal in Huldigung gegen Ibsen, der (wenigstens aufs Dramatische hin angesehen) als Ältester wie als Haupt der neuen realistischen Schule dasteht, zum zweiten aus gebotener Klugheit. Die »Gespenster« erlebten schon vor zwei, drei Jahren eine Vormittagsaufführung auf dem Residenztheater, damals noch unter Direktor Annos Leitung, und erzielten einen großen, wenn auch von den Gegnern der Schule hart bestrittenen Erfolg. [ . . . ]

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