Geheimer Rückversicherungsvertrag zwischen Deutschland und Rußland vom 18. Juni 1887
Die Kaiserlichen Höfe von Deutschland und Rußland, von dem gleichen Wunsche beseelt, den allgemeinen Frieden durch eine Verständigung zu festigen, die die Verteidigungsstellung der beiderseitigen Staaten sichern soll, haben beschlossen, im Hinblick darauf, daß der Geheimvertrag und das Geheimprotokoll, die von Deutschland, Rußland und Österreich-Ungarn im Jahre 1881 unterzeichnet und im Jahre 1884 erneuert wurden, am 15./27. Juni 1887 ablaufen*, das zwischen ihnen bestehende Einvernehmen durch ein Sonderabkommen zu bekräftigen. [Sie haben durch ihre Bevollmächtigten vereinbart]**:
Art. I. Für den Fall, daß eine der hohen vertragschließenden Parteien sich mit einer dritten Großmacht im Kriege befinden sollte, wird die andere eine wohlwollende Neutralität bewahren und ihre Sorge darauf richten, den Streit örtlich zu begrenzen. Die Bestimmung soll auf einen Krieg gegen Österreich oder Frankreich keine Anwendung finden, falls dieser Krieg durch einen Angriff einer der hohen vertragschließenden Parteien gegen eine dieser beiden Mächte hervorgerufen ist.
Art. II. Deutschland erkennt die geschichtlich erworbenen Rechte Rußlands auf der Balkanhalbinsel an und insbesondere die Rechtmäßigkeit seines vorwiegenden und entscheidenden Einflusses in Bulgarien und Ostrumelien***. Die beiden Höfe verpflichten sich, keine Änderung des territorialen status quo der genannten Halbinsel ohne vorheriges Einverständnis zuzulassen und sich gegebenenfalls jedem Versuche, diesem status quo Abbruch zu tun oder ihn ohne ihr Einverständnis abzuändern, zu widersetzen.
Art. III. Die beiden Höfe erkennen den europäischen und gegenseitig bindenden Charakter des Grundsatzes der Schließung der Meerengen des Bosporus und der Dardanellen an, der begründet ist auf dem Völkerrechte, bestätigt durch die Verträge und zusammengefaßt in der Erklärung des zweiten Bevollmächtigten Rußlands in der Sitzung des Berliner Kongresses vom 12. Juli (Protokoll 19).
* Nämlich das Dreikaiserbündnis. [Alle Fußnoten stammen aus: Ernst Rudolf Huber, Hg., Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, 3. bearb. Aufl., Bd. 2, 1851-1900. Stuttgart: Kohlhammer, 1986, S. 498-99. ]
** Es folgt die Benennung der beiderseitigen Bevollmächtigten: des Grafen Herbert v. Bismarck, des Staatssekretärs des Auswärtigen Amts, und des Grafen Paul Schuwalow, des russischen Botschafters in Berlin (1885–94).
*** Die durch den „Berliner Vertrag“ geschaffene Provinz Ostrumelien, die nominell unter der Hoheit des Türkischen Reichs verblieb, de facto aber seit 1885 durch einen Staatsstreich als Provinz Südbulgarien dem Königreich Bulgarien einverleibt war.