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Katholische Sicht der Wirtschaft: Auszüge aus Wilhelm Emmanuel von Kettelers „Die Arbeiterfrage und das Christenthum” (1864)

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Ich bin ferner berechtigt, über diese Angelegenheit ein Urtheil abzugeben, um zu erörtern, welche Stellung das Christenthum mit seinen Lehren und seinen eigenthümlichen Mitteln zu dieser wichtigen Frage einnimmt. Jeder Christ, der nicht gedankenlos unter den wichtigsten Zeitereignissen dahinleben will, muß ja hierüber mit sich im Reinen sein. Man will den „sittlichen und wirthschaftlichen Zustand der arbeitenden Classe“ heben und macht für diesen Zweck bestimmte Vorschläge. Was kann wichtiger sein, als zu wissen, wie diese Vorschläge sich zum Christenthum verhalten? ob wir ihnen beistimmen, sie unterstützen dürfen oder nicht? welche besonderen Mittel das Christenthum besitzt für die sittliche und wirthschaftliche Hebung des Arbeiterstandes? Das sind aber lauter Fragen, die innig mit der christlichen Religion zusammenhängen und die ich als Christ und als Bischof gleichmäßig zu beurtheilen berufen bin.

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Es ist keine Täuschung darüber mehr möglich, daß die ganze materielle Existenz fast des ganzen Arbeiterstandes, also des weitaus größten Theiles der Menschen in den modernen Staaten, die Existenz ihrer Familien, die tägliche Frage um das nothwendige Brod für Mann, Frau und Kinder, allen Schwankungen des Marktes und des Waarenpreises ausgesetzt ist. Ich kenne nichts Beklagenswertheres als diese Thatsache. Welche Empfindungen muß das in diesen armen Menschen hervorrufen, die mit Allem, was sie nöthig haben und was sie lieben, täglich an die Zufälligkeiten des Marktpreises angewiesen sind! Das ist der Sklavenmarkt unsers liberalen Europa's, zugeschnitten nach dem Muster unsers humanen, aufgeklärten, antichristlichen Liberalismus und Freimaurerthums.

IV. DIE ZWEI GRÜNDE DIESES ZUSTANDES
So war es nicht immer. Diese Zustände des Arbeiterstandes sind vielmehr erst in den modernen Staaten allgemein geworden. Damit urtheilen wir noch nicht, wir sprechen nur die Thatsache aus, daß diese Schwankungen in der Lebensstellung des gesammten Arbeiterstandes, demgemäß er mit seiner ganzen Existenz auf den Tagelohn angewiesen, der Tagelohn aber eine Waare geworden ist, deren Preis sich täglich durch Angebot und Nachfrage bestimmt, fast immer nur den Werth des allernothwendigsten Lebensunterhaltes darstellt und oft unter ihn herabsinkt, der Vergangenheit fremd waren und erst mit der Neugestaltung der staatlichen Verhältnisse seit der Revolution eingetreten sind. Es ist daher überaus wichtig, auch die Gründe dieser Zustände, die modernen volkswirthschaftlichen Prinzipien, aus denen sie hervorgegangen sind, genau kennen zu lernen. Wir können sie mit voller Sicherheit und unläugbarer Richtigkeit bezeichnen. Wir brauchen dazu nur das Gesagte vor Augen zu behalten und uns die Frage vorzulegen, was die Arbeit zur Waare gemacht hat und was ihren Werth auf die unterste Stufe der Lebensnothdurft herabdrängt.

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