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Victor Böhmerts Kritik am traditionellen, restriktiven Zunftwesen (1858)

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Wenn ein Englander oder Franzose oder Belgier oder Schweizer in den Motiven zu einem Gesetzentwurfe die Behauptung lesen würde, „daß die moralische Haltung da fehle, wo Gewerbefreiheit herrscht“, so würde er wohl sich erst erkundigen, ob solche Vorwürfe in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben und gedruckt seien; denn es ist allerdings ein starkes Stück, allen den Millionen Bewohnern der gewerbfreien Staaten die moraliche Haltung abzusprechen, weil sie so glücklich sind, das Zunftwesen beseitigt zu haben und von dieser Art „Corporationsgeist“ nicht mehr beseelt zu sein. Welches sittliche Prinzip leuchtet denn aus dem Corporationsgeist der Zünfte hervor? Die Zünfte sind schon längst zu Gemeinschaften ausgeartet, denen nur die Begriffe „Privilegium, Schutz unseres Privilegiums, Abwehr der Nichtprivilegirten und ihrer Waaren“ noch klar zu sein scheinen. Ihre Thätigkeit ist keine nach Innen kräftigende, sondern eine nach Außen abwehrende. Wo sind die Beweise, daß eine Zunft als solche ihr Gewerbe weiter fördert, daß sie über Verbesserungen im Betriebe des Gewerbes beräth, daß sie Maschinen zur Erleichterung der gemeinsamen Arbeit anschafft, daß sie Zeitungen, Muster, Modelle, Bibliotheken zur Fortbildung der Meister und Gesellen und Lehrlinge hält? Nur ganz neuerdings entschließt man sich endlich, Innungsmagazine einzurichten. Wie viel Schwierigkeiten das aber macht, mögen diejenigen beantworten, welche dabei thätig waren. So viel ist gewiß, daß nur die dringendste Noth hier ein Gebot vorschrieb, daß die Zunftglieder erst in ihrer Existenz bedroht sein müssen, ehe sie sich zu solchen Werken entschließen.

Wenn wir aber eben aufgezählt haben, was in den Zünften nicht geschieht, so wollen wir nun das erwähnen, was geschieht. Da ist nun die Jagd auf alle vermeintlichen Eingriffe in die Zunftrechte die wesentlichste Beschäftigung. Die Blätter der deutschen Gewerbegeschichte erzählen uns fast auf jeder Seite von der Lieblosigkeit, mit welcher man noch bis in unsere Tage hinein die sogenannten Bönhasen, deren einziges Vergehen „die Arbeit“ war, schmählich verfolgte, ihnen die Stadt verwies, die gefertigte Waare wegnahm und sie mit Weib und Kind ins Elend stieß. Soll man in solchen Thaten, die noch heute in ähnlicher Weise vorkommen, Aeußerungen der Liebe gegen einen christlichen Mitbruder erkennen? Bewahre uns der Himmel vor der Fortdauer eines solchen „genossenschaftlichen Sinnes und Strebens!“ Wer sich einen Begriff davon machen will, wie weit es ein solches Streben bringen kann, der studire nur einige der zahllosen Prozeßakten, die in den Archiven der Gewerbegerichte wegen Beeinträchtigung der Zunftrechte aufgehäuft sind. Da verbieten die Drechsler dem Stuhlmacher, Knöpfe und Verzierungen an seine Stühle anzubringen; die Schuhmacher wollen es nicht dulden, daß Jemand Gummischuhe verkaufe, die sie gar nicht anfertigen, nicht einmal ausbessern können; die Zimmerleute und Tischler streiten sich Jahrelang darüber, in wessen Arbeitsgebiet die Anfertigung einer hölzernen Treppe gehöre;

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