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Daniel Schenkel: Auszüge aus Der Deutsche Protestantenverein (1868)

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Daß im Uebrigen die religiösen, und genauer ausgedrückt, die kirchlichen Zustände unserer Zeit unbefriedigend sind, daß sie einer gründlichen Erneuerung und Verbesserung bedürfen, darüber besteht auch für uns kein Zweifel. Wir reden zunächst nur von der deutschen Nation. Wenn eine Nation mit ihrer Kirche zerfallen ist, dann droht dem nationalen Leben eine große Gefahr. Indem es sich von der Kirche lossagt, wird es sich entweder zugleich auch von der Religion, die so leicht mit der Kirche verwechselt wird, lossagen, und mit der Religion den ächt sittlichen Gehalt, seine Kraft und Weihe verlieren; oder es wird sich religiös in eine Anzahl von Sekten und Sonderparteien zerspalten, und dann einer der ergiebigsten Quellen seiner Einheit und Zusammengehörigkeit verlustig gehen. Ihr werdet sagen: die religiöse Einheit ist seit der Reformation für uns Deutsche ohnedies nicht mehr vorhanden. Wir leugnen das nicht. Aber der Protestantismus war immerhin eine nationale Schöpfung. Das deutsche Volk ist, trotz seiner confessionellen Spaltung, das Volk der Reformation; die nicht römisch, sondern national gesinnten deutschen Katholiken hatten bisher an dem Protestantismus einen schützenden Wall gegen römische Uebergriffe. Die Auflösung des Protestantismus wäre für das deutsche Volk nicht nur eine unermeßliche religiöse, sondern auch eine furchtbare nationale und politische Gefahr. Wir sind gegen den Katholicismus, so weit er nicht culturwidrige Zwecke verfolgt, und die Gräuel jesuitischer Unduldsamkeit und pfäffischer Verfolgungssucht nicht zu erneuern versucht, lediglich wohlwollend gestimmt; er mag seine religiöse und culturhistorische Mission unbehindert fortsetzen, wenn er uns Protestanten nur an der unsrigen nicht hindert. Allein die Religion der modernen Welt ist immerhin der Protestantismus; nur er hat das Christenthum so aufgefaßt, wie die mündig gewordenen Völker es auf die Dauer noch zu verstehen und sich anzueignen im Stande sind; ihm gehört, nach unserer Ueberzeugung, in eben dem Maße die Zukunft, als es ihm gelingt, seine Grundsätze im Völker- und Staatenleben zu verwirklichen und die theologischen Fesseln abzustreifen, mit denen er, der jugendliche Riese, schon vor drei Jahrhunderten seine ohnedies noch ungelenken Glieder eingeschnürt hat.

Damit sind wir bereits an dem Punkte angelangt, von dem aus wir die Entstehung unseres Vereins näher zu begründen vermögen. Der Protestantismus ist das Christenthum in der Form der religiösen Wahrheit und der sittlichen Freiheit. Er kann seinen Grundüberzeugungen nach, sich nur zufriedengeben mit der höchsten und mit der ganzen Wahrheit, und er bedarf, um zu diesem Ziele zu gelangen, unbedingte, vor keinen Ergebnissen erschreckende Freiheit. In dreifacher Beziehung hat er mit der mittelalterlichen Form des Christenthums gebrochen. Erstens weist er alle priesterliche Vermittelung, alles Pfaffenthum zurück. Zweitens fordert er selbstständige Glaubenserkenntniß, eigene Gewissensüberzeugung; ein bloß überlieferter und angenommener Glaube hat für ihn keinen Werth. Drittens legt er kein Gewicht auf äußere Formen; der Frieden der Seele, die Gemeinschaft mit Gott ist ihm unabhängig von denselben. So wenig es dem Christenthum selbst möglich gewesen war, mit seinen neuen Ideen sofort in der Welt durchzudringen, so wenig gelang es dem Protestantismus, seine Grundsätze unverzüglich in voller Reinheit und Stärke zu verwirklichen. Der katholische Sauerteig, der noch in ihm zurückgeblieben war, durchsäuerte die von ihm gegründete Gemeinschaft wieder. An die Stelle der katholischen Priesterherrschaft trat eine protestantische Theologenherrschaft; an die Stelle der selbstständigen Glaubensüberzeugungen ein unselbstständiger Ueberlieferungs- oder Bekenntniß-Glaube; an die Stelle der katholischen Satzungen und Ceremonien protestantische Dogmen und Formeln, die, wie z. B. beim Abendmahle, sogar ein unheilbares Zerwürfniß unter den Protestanten selbst veranlaßten; an die Stelle des lebendigen Papstes in Rom ein papierner Papst, die für schlechthin inspirirt und darum unfehlbar erklärte Bibel.

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