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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Auszüge aus Die Vernunft in der Geschichte (1837)

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Die Vernunft ist in sich ruhend und hat ihren Zweck in sich selbst; sie bringt sich selbst zum Dasein hervor und führt sich aus. Das Denken muß sich dieses Zweckes der Vernunft bewußt werden. Die philosophische Weise kann anfangs etwas Auffallendes haben; sie kann aus der schlechten Gewohnheit der Vorstellung auch selbst für zufällig, für einen Einfall gehalten werden. Wem nicht der Gedanke als einzig Wahres, als das Höchste gilt, der kann die philosophische Weise gar nicht beurteilen.

Diejenigen unter Ihnen, meine Herren, welche mit der Philosophie noch nicht bekannt sind, könnte ich nun etwa darum ansprechen, mit dem Glauben an die Vernunft, mit dem Durst nach ihrer Erkenntnis zu diesem Vortrage der Weltgeschichte hinzutreten; – und es ist allerdings das Verlangen nach vernünftiger Einsicht, nach Erkenntnis, nicht bloß nach einer Sammlung von Kenntnissen, was als subjektives Bedürfnis bei dem Studium der Wissenschaften vorauszusetzen ist. In der Tat aber habe ich solchen Glauben nicht zum Voraus in Anspruch zu nehmenc. Was ich vorläufig gesagt und noch sagen werde, ist nicht bloß – auch in Rücksicht unserer Wissenschaft nicht – als Voraussetzung, sondern als Übersicht des Ganzen zu nehmen, als das Resultat der von uns anzustellenden Betrachtung, – ein Resultat, das mir bekannt ist, weil mir bereits das Ganze bekannt ist. Es hat sich also erst und es wird sich aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst ergeben, daß es vernünftig in ihr zugegangen, daß sie der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen, der die Substanz der Geschichte [ist], der eine Geist, dessen Natur eine und immer dieselbe ist, und der in dem Weltdasein diese seine eine Natur expliziert. (Der Weltgeist ist der Geist überhaupt.)d Dies muß, wie gesagt, das Ergebnis der Geschichte selbst sein. Die Geschichte aber haben wir zu nehmen, wie sie ist; wir haben historisch, empirisch zu verfahren. Under anderem auch müssen wir uns nicht durch Historiker vom Fache verführen lassen; denn wenigstens unter den deutschen Historikern, sogar solche, die eine große Autorität besitzen, auf das sogenannte Quellenstudium sich alles zugute tun, gibt es solche, die das tun, was sie den Philosophen vorwerfen, nämlich apriorische Erdichtungen in der Geschichte zu machen. Um ein Beispiel anzuführen, so ist es eine weitbreitete Erdichtung, daß ein erstes und ältestes Volk gewesen, das, unmittelbar von Gott belehrt, in vollkommener Einsicht und Weisheit gelebt, in durchdringender Kenntnis aller Naturgesetze und geistiger Wahrheit gewesen sei, – oder daß es diese und jene Priestervölker gegeben, oder – um etwas Spezielleres anzuführen – daß es ein römisches Epos gegeben, aus welchem die römischen Geschichtschreiber die ältere Geschichte geschöpft haben, usf. – Dergleichen Aprioritäten wollen wir den geistreichen Historikern von Fach überlassen, unter denen sie bei uns nicht ungewöhnlich sind.

Als die erste Bedingunge konnten wir somit aussprechen, daß wir das Historische getreu auffassen; allein in solchen allgemeinen Ausdrücken wie treu und auffassen liegt die Zweideutigkeit. Auch der gewöhnliche und mittelmäßige Geschichtsschreiber, der etwa meint und vorgibt, er verhalte sich nur aufnehmend, nur dem Gegebenen sich hingebend, ist nicht passiv mit seinem Denken; erf bringt seine Kategorien mit und sieht durch sie das Vorhandene. Das Wahrhafte liegt nicht auf der sinnlichen Oberfläche; bei allem insbesondere, was wissenschaftlich sein soll, darf die Vernunft nicht schlafen und muß Nachdenken angewendet werden. Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch venünftig an; beides ist in Wechselbestimmung.


c Am Rande: ß) Glaube – Übersicht, Bes.
d Am Rande: ?) historisch verfahren.
e m Rande: d) Treu auffassen
f Ms. st. d.: Denken und

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