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Hermann von Helmholtz: Auszüge aus einer Rede aus Anlass seiner Berufung als Prorektor an der Universität Heidelberg (1862)

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Freilich dauerte das gespannte Verhältniss in seiner ersten Bitterkeit nicht lange. Die Naturwissenschaften erwiesen vor Jedermanns Augen durch eine schnell auf einander folgende Reihe glänzender Entdeckungen und Anwendungen, dass ein gesunder Kern von ungewöhnlicher Fruchtbarkeit in ihnen wohne; man konnte ihnen Achtung und Anerkennung nicht versagen. Und auch auf den übrigen Gebieten des Wissens erhoben gewissenhafte Erforscher der Thatsachen bald ihren Widerspruch gegen den allzu kühnen Icarusflug der Speculation. Doch lässt sich auch ein wohlthätiger Einfluss jener philosophischen Systeme nicht verkennen; wir dürfen wohl nicht leugnen, dass seit dem Auftreten von Hegel und Schelling die Aufmerksamkeit der Forscher in den verschiedenen Zweigen der Geisteswissenschaften lebhafter und dauernder auf deren geistigen Inhalt und Zweck gerichtet gewesen ist, als es in den vorausgehenden Jahrhunderten vielleicht der Fall war. Die grosse Arbeit jener Philosophie ist deshalb nicht ganz vergebens gewesen.

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Ueberblicken wir nun die Reihe der Wissenschaften mit Beziehung auf die Art, wie sie ihre Resultate zu ziehen haben, so tritt uns ein durchgehender Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften entgegen. Die Naturwissenschaften sind meist im Stande, ihre Inductionen bis zu scharf ausgesprochenen allgemeinen Regeln und Gesetzen durchzuführen; die Geisteswissenschaften dagegen haben es überwiegend mit Urtheilen nach psychologischem Tactgefühl zu thun. So müssen die historischen Wissenschaften zunächst die Glaubwürdigkeit der Berichterstatter, die ihnen die Thatsachen überliefern, prüfen; sind die Thatsachen festgestellt, so beginnt ihr schwereres und wichtigeres Geschäft, die oft sehr verwickelten und mannigfaltigen Motive der handelnden Völker und Individuen aufzusuchen; beides ist wesentlich zu entscheiden nur durch psychologische Anschauung. Die philologischen Wissenschaften, insofern sie sich mit Erklärung und Verbesserung der uns überlieferten Texte, mit Literatur- und Kunstgeschichte beschäftigen, müssen den Sinn, den der Schriftsteller auszudrücken, die Nebenbeziehungen, welche er durch seine Worte anzudeuten beabsichtigte, herauszufühlen suchen; sie müssen zu dem Ende von einer richtigen Anschauung sowohl der Individualität des Schriftstellers als des Genius der Sprache, in der er schrieb, auszugehen wissen. Alles dies sind Fälle künstlerischer, nicht eigentlich logischer Induction. Das Urtheil lässt sich hier nur gewinnen, wenn eine sehr grosse Menge von einzelnen Thatsachen ähnlicher Art im Gedächtniss bereit ist, um schnell mit der gerade vorliegenden Frage in Beziehung gesetzt zu werden. Eines der ersten Erfordernisse für diese Art von Studien ist deshalb ein treues und bereites Gedächtniss. In der That haben viele der berühmten Historiker und Philologen durch die Kraft ihres Gedächtnisses das Staunen ihrer Zeitgenossen erregt. Natürlich wäre das Gedächtniss allein nicht ausreichend ohne die Fähigkeit, schnell das wesentlich Aehnliche überall herauszufinden, ohne eine fein und reich ausgebildete Anschauung der Seelenbewegungen des Menschen, welche letztere wieder nicht ohne eine gewisse Wärme des Gefühls und des Interesses an der Beobachtung der Seelenzustände Anderer zu erreichen sein möchte. Während uns der lebendige Verkehr mit Menschen im täglichen Leben die Grundlage dieser psychologischen Anschauungen geben muss, dient auch das Studium der Geschichte und der Kunst dazu, sie zu ergänzen und zu bereichern, indem sie uns Menschen in ungewöhnlichen Umständen handelnd zeigen, und wir an ihnen die ganze Breite der Kräfte ermessen lernen, die in unserer Brust verborgen liegen.

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