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Theodor Fontane über den sich wandelnden Geschmack des Theaterpublikums (1878-1889)

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So stand ich zu dem jungen Dichter und seinem Stück, und so gewappnet und gefeit (wie ich glaubte) trat ich gestern ins Theater. Und ich bin auch in meinen Grundanschauungen unerschüttert geblieben, kann aber andererseits nicht in Abrede stellen, daß die Wirkung der Aufführung eine von der Lektüre sehr verschiedene war. Sie war nicht geringer, sie war nur ganz anders. [ . . . ] Im Publikum wurden dabei, je nach der Parteistellung, mehr oder weniger heftige Beifalls- oder Mißfallenszeichen laut, ein zustimmendes oder ein verhöhnendes Lachen, auch wohl eins jener kritischen Impromptus, darin die Berliner exzellieren. [ . . . ] Man sah einen schwer Betrunkenen und einige Imbeziles. Durch stärkeres Betonen der Brutalitätselemente, die der Dichter, in vollem künstlerischem Bewußtsein, hier vorgeschrieben hat, wäre diese Nichtwirkung freilich leicht in eine starke Wirkung umzusetzen gewesen, aber es ist mir nachträglich doch ganz sicher, daß das dem Grusel auch nicht aufgeholfen, sondern nur einfach das Widerliche (mit vielleicht sehr bedenklichen Folgen für den Ausgang des Stücks) an die Stelle des prosaisch Indifferenten gesetzt hätte. Und so hatten denn Oberleitung und Regie von zwei Übeln das kleinere gewählt. Das aber nahm ich, als Resultat dieser Aufführung, für mich persönlich mit heim, daß der Realismus, auch der künstlerischste, wenn er aus dem Buch auf die Bretter tritt, doch gewissen Bühnengesetzen unterworfen bleibt, und daß Züge lebendigen Lebens, die dem realistischen Roman, auch wenn sie häßlich sind, zur Zierde gereichen, auf der Bühne prosaisch wirken, wenn man ihnen die Locken ihrer Kraft nimmt, oder abstoßend, wenn man ihnen ihre Echtheit beläßt. [ . . . ]


II

[ . . . ]

Über Hauptmanns Drama wird noch viel gestritten und manche vieljährige Freundschaft ernster oder leichter gefährdet werden, aber über eines wird nicht gestritten werden können, über den Dichter selbst und über den Eindruck, den sein Erscheinen machte. Statt eines bärtigen, gebräunten, breitschultrigen Mannes mit Klapphut und Jägerschem Klapprock erschien ein schlank aufgeschossener junger blonder Herr, von untadligstem Rockschnitt und untadligsten Manieren, und verbeugte sich mit einer graziösen Anspruchslosigkeit, der wohl auch die meisten seiner Gegner nicht widerstanden haben. Einige freilich werden aus dieser Erscheinung, indem sie sie für höllische Täuschung ausgeben, neue Waffen gegen ihn entnehmen und sich gern entsinnen, daß der verstorbene Geheime Medizinalrat Casper sein berühmtes Buch über seine Physikats- und gerichtsärztlichen Erfahrungen mit den Worten anfing: »Meine Mörder sahen alle aus wie junge Mädchen.«




Quelle: Teil I (über Iffland): Theodor Fontane, Sämtliche Werke, Bd. 22, Causerien über Theater, herausgegeben von Edgar Gross. München: Nymphenburger Verlagshandlung, 1964, S. 636; Teil II (über Ibsen): Theodor Fontane, Sämtliche Werke, Bd. 22, S. 705-09; Teile III-V (an Friedrich Stephany, an seinen Sohn, an Friedrich Stephany): Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe, herausgegeben von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. Zweiundzwanzig Dünndruckbände in vier Abteilungen. Abteilung IV, Briefe, Bd. 3, 1879-1889 © 1980 Carl Hanser Verlag: München, S. 728-32; Teil VI (über Hauptmann): Theodor Fontane, Sämtliche Werke, Bd. 22, S. 710-18.

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