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Bericht des Reichsjustizministeriums über das Auftreten und die Bekämpfung „jugendlicher Cliquen und Banden” (Anfang 1944)

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Ursachen der vermehrten Cliquenbildung

Der Zuspruch zu den kriminell-asozialen Gruppen ist, wie bereits erwähnt, im wesentlichen darauf zurückzuführen, daß der Krieg die mangelnde Beaufsichtigung und Beobachtung kriminell besonders anfälliger Jugendlicher verursacht und sie den infizierenden Umwelteinflüssen in größerem Maße ausgesetzt sind.

Der Zuspruch zu den politisch-oppositionellen und liberalistisch-individualistischen Cliquen hat darüber hinaus andere Ursachen:

a) Die nicht einsatzfreudige Jugend ist sich viel selbst überlassen. Der HJ-Dienst wird möglichst versäumt. Begünstigt durch Verdunkelungsmaßnahmen, treffen sie sich auf den Straßen oder in den Parks, haben ein Musikinstrument zur Hand und bilden bald eine Gruppe, zu deren Fortentwicklung jeder etwas beiträgt. Es zeigt sich ein als Pubertätserscheinung zu wertender Trieb zum Gemeinschaftserlebnis, der durch den HJ–Dienst nicht befriedigt wird. Hinzu kommt, daß der HJ-Dienst nicht mehr in der Vertiefung abgehalten werden kann, wie es vor dem Kriege der Fall war. Die meisten Führer sind bei der Wehrmacht. Die Einheiten werden oft nur von Jugendlichen geführt, die gleichaltrig sind und nicht immer Führerqualitäten besitzen. Der Dienst selbst bietet wenig Neues. Der in jedem Jungen schlummernde Sinn für Romantik bleibt ohne Betätigung, zumal da die HJ aus Kriegsnotwendigkeiten bislang Fahrten nicht mehr unternahm. Daher zogen ältere, erfahrene Kameraden, die eine bündische Lebenshaltung verrieten, die Jugendlichen leicht an. Zunächst kam es nur zu kleinen Treffs, dann aber zwanglos zu Fahrten, die die Jugendlichen innerlich so erfaßten, daß sie nunmehr den HJ-Dienst insgesamt verneinten.

b) Das Bestreben zur Selbständigkeit, welches bei gewissen Altersstufen in der Natur begründet liegt, kann durch das Elternhaus nicht in vernünftige Bahnen gelenkt werden, da der Vater meist im Felde steht, die Mutter aber dienstverpflichtet oder zu schwach ist, dem Treiben mit Nachdruck begegnen zu können.

c) Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist das Arbeitsproblem. Der Einsatz des Jugendlichen an einer seinen Neigungen nicht entsprechenden Arbeitsstelle sowie die an den Jugendlichen gestellten hohen Anforderungen zeigen bei ihm Unlust – oder Ermüdungserscheinungen, die zur Arbeitsbummelei führen. Dadurch gerät er mit Kreisen in Berührung, die ihn zum Schlechten hin beeinflussen. Der Verkehr mit ausländischen Arbeitern am Arbeitsplatz trägt dazu bei, im Jugendlichen liberalistische Wunschträume aufkommen zu lassen, deren Erfüllung er in der Verbindung mit gleichgesinnten Kameraden sucht.

d) Wie der Kölner Jugendrichter betont, wird durch einen Umstand der Gegensatz zur HJ besonders gesteigert. Solange der Schutzmann in Erscheinung tritt, wenn es gilt die Einhaltung staatlicher Maßnahmen, insbesondere der PolizeiVO zum Schutze der Jugend zu überwachen, kommt es im allgemeinen nicht zu Zwischenfällen. Der HJ-Streifendienst und die Jugenddienstpflicht brachten aber einen neuen Gesichtspunkt. Denn diejenigen, die Disziplin und Ordnung forderten, und die Fahrten unterbinden wollten, waren Altersgenossen. So kam es bald zu Schlägereien zwischen Cliquenangehörigen und dem HJ-Streifendienst, zu Zerstörungen und Beschädigung der HJ–Heime und schließlich zur Verfolgung einzelner Hitlerjungen. Hierin liegt zum Teil die Wurzel zur oppositionellen Einstellung gegen die Hitlerjugend und damit gegen den Staat. Bei manchen Zusammenschlüssen sprechen allerdings auch bolschewistische Erwägungen mit, die – von einem Anführer ausgestreut – bald einen reichen Nährboden finden.

e) Soweit sexuelle Verwahrlosung in Erscheinung tritt, ist diese meist in der mangelnden Betreuung durch das Elternhaus und somit in dem freien Verkehr unter den Jugendlichen begründet.

f) Eine besondere Verschärfung der illegalen Zusammenschlüsse brachten die Terrorangriffe. In der Freizeit besteht außerhalb des Kriegseinsatzes der HJ kaum noch eine Betätigungsmöglichkeit. Kinovorstellungen, Sportveranstaltungen und Sport ruhen in schwerbeschädigten Städten. Kommen die Jugendlichen abends müde von der Arbeit, so empfängt sie eine beschädigte Wohnung oder aber eine durch fliegergeschädigte Angehörige allzu beengte Behausung. Dann sucht sich der Jugendliche Gesellschaft, die ihm Freude bringt, die ihn aufheitert und Abwechslung verschafft. Soweit sie noch den Dienst in der HJ mitmachten, so ändert sich dies auch. Die HJ-Heime sind zerstört, der Dienst ist auf die Straße oder den Übungsplatz verwiesen.

Was die asozialen und kriminellen Jugendlichen anlangt, so werden sie durch die Terrorangriffe in noch weiterem Umfang zum Verbrechen getrieben. Ist die Arbeitsstelle zerstört, so arbeiten sie eine Zeitlang nicht, leben vielfach ohne Angehörige, treiben sich in Bunkern herum und stoßen so zwangsläufig zu den ihnen artverwandten Altersgenossen. Hierdurch erwächst eine negative Auslese, die sich allmählich zum Mittelpunkt dieser Jugendgruppen macht.

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