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Hellmuth von Gerlach über führende Antisemiten und ihre Agitation (1880er Jahre)

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Der „V. d. St.” war antisemitisch, weil man das Judentum für undeutsch – Rassentheorie –, für unpatriotisch – die Juden standen fast ausnahmslos im Lager der Opposition – und für unsozial – sie galten als Säulen des Manchestertums – hielt. Hofprediger Stöcker und Professor von Treitschke waren die beiden Götter des V. d. St. Durch meine rednerische Betätigung im V.d.St. kam ich schon als ganz junger Mensch in persönliche Berührung mit den führenden Antisemiten. Besonders auch mit einem, der heute völlig vergessen ist, aber in den achtziger Jahren eine gewaltige Rolle spielte, mit Otto Glagau. Er war Handelsredakteur an liberalen Blättern wie der „Nationalzeitung” gewesen. Er hatte sich ein paar tausend Mark erspart. Als nach 1871 der Segen der französischen Tributzahlungen die Gründerzeit entfesselte, verfiel auch Glagau dem allgemeinen Taumel. Er kaufte sich Aktien des oberfaulen Linden-Bau-Vereins und war damit seine Ersparnisse los. Aber wenn so sein Gold zu Wasser geworden war, so wußte er aus diesem schmutzigen Wasser wieder Gold zu gewinnen. Er schrieb ein Buch „Der Börsen- und Gründungsschwindel in Deutschland”, das ungeheures Aufsehen erregte. Diesem Buch ließ er weitere folgen. Der pekuniäre Erfolg gestattete ihm, eine eigene Zeitschrift herauszugeben, die er den „Kulturkämpfer” nannte. Sie war in blendendem Stil geschrieben und enthielt so viel interessantes Material, besonders in Personalfragen, wie später etwa Hardens „Zukunft”.

Aus rein persönlichen Gründen war Glagau Antisemit geworden: An den faulen Gründungen, durch die er mühelos hatte reich werden wollen, waren Juden hervorragend beteiligt. In anderen, mindestens ebenso faulen Gründungen hatten hohe Aristokraten (wie der Fürst Putbus) und hochkonservative Germanen (wie der Geheimrat Hermann Wagener) an der Spitze gestanden. Aber mit beneidenswerter Einseitigkeit sah Glagau hinter allem nur den Juden. Für ihn waren die Juden die Verführer, die Arier die Verführten. So schuf er die Plattform für eine populäre und finanziell einträgliche Position. Sein Schlagwort lautete: „Die soziale Frage ist die Judenfrage”. – Die soziale Frage stand für mich im Vordergrund des Interesses. Glagau hatte eine Patentmedizin zu ihrer Lösung erfunden: Los von den Juden, und die soziale Frage ist gelöst! Also ging ich zu ihm, um die soziale Weisheit an der Quelle einzunehmen.

Überhaupt – darüber bin ich mir später klar geworden – blieb ich nur deshalb beinahe 30 Jahre im Bann des Antisemitismus, weil alle hervorragenden Antisemiten mich mit Vertrauen und Freundschaft beehrten. „Unser Kronprinz” hörte ich immer wieder. Liebermann von Sonnenberg, damals unbestritten der Führer der Antisemiten, widmete mir einen Band seiner Gedichte und bot mir, als ich gerade 26 geworden war, einen freigewordenen antisemitischen Reichstagssitz an. Liebermann von Sonnenberg, wegen Schulden entlassener Rittmeister, wußte nichts, konnte aber viel. Er war einer der wirkungsvollsten Versammlungsredner, der mir in meinem Leben vorgekommen ist. Mit blendendem Witz verband er jenes hohe Pathos, hinter dessen Hohlheit der junge Mensch nicht ohne weiteres kommt. Dazu war er ein Organisator und ein Gesellschafter von hohen Graden. Jeder Wahlkreis, den er in Spezialbearbeitung nahm, konnte von vornherein als erobert gelten. Und jede Nachversammlung, die er arrangierte, war ein Gaudium ohne gleichen. Dichten, singen und saufen konnte er gleich gut. Wenn er seine selbstgefertigten antijüdischen Schnadahüpfeln vortrug: „Schlaf, Jüdchen, schlaf” oder „Im Parlament sitzt Eugen Ri-Ra-Richter”, so schwamm alles in Wonne. Auch ich konnte mich jahrelang dem Zauber dieser urwüchsigen Persönlichkeit nicht entziehen.

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