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Hellmuth von Gerlach über führende Antisemiten und ihre Agitation (1880er Jahre)

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Naumann hat Samen ausgestreut, der noch in hundert Jahren Früchte tragen kann. Stöckers Werk war schon vor seinem Tode fast zu nichts zerronnen.

Stöcker war der größere Redner. Naumann war der größere Mensch.

Bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr bin ich Antisemit gewesen; erst instinktiv, dann aus Überzeugung, dann von kritischen Zweifeln geplagt.

Jeder Mensch ist zunächst das Produkt seiner Umgebung und Erziehung. Wer in einem stockkonservativen Schloß des konservativsten Wahlkreises Preußens aufwuchs, von dem konnte nicht gut die Mentalität des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus erwartet werden. Als Kind bekam ich Juden nur in Gestalt von Fell- und Bündel-Juden zu Gesicht, die auf unseren Hof zum Kaufen und Verkaufen kamen. Das waren arme Teufel von peinlicher Unterwürfigkeit, jener Typ, der, vorne hinausgeworfen, hinten wieder hineinkommt. Niemand haßte sie, aber man verachtete sie. Minderwertige Rasse!

Das war überhaupt die Vorstellung, in der ich erzogen wurde: Die Juden sind anders als wir, und stehen tiefer als wir. Arbeiten wollen sie nicht, nur schachern. Sie kennen keine andere Moral als die des Geldverdienens um jeden Preis. Darum soll man sich vor ihnen in acht nehmen. Am besten tut man, wenn man ihnen aus dem Wege geht. Denn: Qui mange du juif en meurt.

Nach diesem Rezept verfuhr ich auf dem Gymnasium. Wir hatten höchstens ein halbes Dutzend jüdischer Mitschüler. Wir verprügelten sie nicht. Die „rauhen Kämpfer” sind erst das Erzeugnis Hitlerscher Geistigkeit. Aber wir schnitten sie. Die paar harmlosen jüdischen Kameraden wurden von uns gewissermaßen in ein geistig-gesellschaftliches Ghetto eingesperrt. Verstandesmäßiger Antisemit, falls man diesen Ausdruck gebrauchen kann, bin ich erst durch die Erziehung im Verein deutscher Studenten geworden. Diesem Verein trat ich bei, um schon auf der Universität Gelegenheit zu politischer Betätigung zu finden. „Politik, dir leb’ ich, Politik, dir sterb’ ich”, schrieb ich damals in einem Brief an meine Mutter, den sie sorgfältig aufgehoben hat. Die einzigen studentischen Verbindungen, die sich in den achtziger Jahren mit Politik abgaben, waren der Verein deutscher Studenten rechts und die Freie wissenschaftliche Vereinigung links. Für mich als Junker kam natürlich die Rechtsorganisation in Frage.

Besonders lockte mich zum „V. d. St.”, daß man dort Ausbildung im Reden genoß. Die Passion an der freien Rede hatte in mir der Cours d’Improvisation in Genf geweckt. Nun fand ich im „V. d. St.” die „Redehalle” vor. Jede Woche hielt er einen freien Diskussionsabend ab. An ihm beteiligte ich mich mit einem solchen Eifer, daß ich schon im zweiten Semester zum Leiter der Redehalle gewählt wurde. Da wir alle so ziemlich derselben politischen Ansicht waren, hätten die Debatten bald sehr eintönig werden müssen. Ich bestimmte deshalb jedesmal einen Korreferenten, der als Advocatus Diaboli die Argumente der Gegner als eigene Überzeugung vorzutragen und sie zu verteidigen hatte. Das belebte unsere Abende außerordentlich.

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