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Hellmuth von Gerlach über führende Antisemiten und ihre Agitation (1880er Jahre)

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Als mir im Sommer 1896 von dem Verlag des „Volk” gekündigt wurde, schrieb ich einen sehr bestürzten Brief an Stöcker. Er antwortete mir mit der alten Herzlichkeit, daß er zwar in einigen Punkten mit meiner Redaktionsführung nicht einverstanden gewesen sei, aber an meiner Kündigung keine Schuld trage und sie aufs tiefste bedaure.

Ein paar Monate nach der Kündigung erzählte mir ein Herr Ebert vom Stadtmissionskomitee in aller Unschuld, daß Stöcker schon im März dem Komitee versprochen habe, für meine Entfernung aus der Redaktion zu sorgen und mich durch eine konservative Persönlichkeit zu ersetzen. Als ich nunmehr der Sache nachging, wurde mir das von verschiedenen Seiten bestätigt. Stöcker hatte mich belogen.

Hätte er mir geschrieben, daß er wegen sachlicher Differenzen sich von mir trennen müsse, so wäre ich sehr traurig gewesen, hätte mich aber in das Unabänderliche gefügt und ihm ein warmes Andenken an zahllose Stunden erhebender Gemeinschaftsarbeit bewahrt. So aber fiel Dunkel auf sein Bild. Er hatte mich als Redakteur loswerden, aber als Anhänger behalten wollen. Darum schob er als schuldig an dem Bruch den ihm blind ergebenen Eigentümer des „Volk” vor und diskreditierte damit diesen mir befreundeten Mann, einen Regierungsassessor Bresges, in meinen Augen. Er selbst hatte nicht den Mut, die Verantwortung für etwas zu übernehmen, wofür er allein verantwortlich war.

Im Januar 1896 hatte er unter dem Einfluß von uns Jungen die offizielle Trennung von den Konservativen vollzogen. Im Sommer 1896 gab er meinem Nachfolger von Örtzen die Instruktion für die Redaktion des „Volk”: „Schreiben Sie konservativer als konservativ und rechtser als rechts.”


16. KAPITEL

BEGINN DER VERWANDLUNG

Oft habe ich im Geiste Stöcker und Naumann, die mir beide gleich nahegestanden haben, miteinander verglichen. Beide waren überzeugte Christen. Aber Stöcker hatte die ganze Unduldsamkeit des starren Orthodoxen, Naumann die allumfassende Liebe des Nazareners.

Beide waren von stärksten sozialen Impulsen getrieben. Aber für Stöcker waren die Massen nur Objekt, Naumann wollte sie zum Subjekt machen. Beide waren Politiker mit Leib und Seele. Aber für Stöcker war die Politik nur das Mittel, ihn an die Macht zu bringen, für Naumann das Mittel, der Demokratie zur Macht zu verhelfen.

Beide wollten Hohes. Aber während Naumann sein Leben lang nach der Wahrheit suchte, glaubte Stöcker in ihrem Besitz zu sein. Naumann blieb bis zu seinem Tode ein Werdender, Stöcker fühlte sich schon in jungen Jahren als ein Fertiger.

Naumann rang mit Zweifeln, Stöcker sagte einem von religiösen Gewissensqualen gepeinigten jungen Theologen: „Lieber Bruder, Zweifel kommt vom Teufel. Gewisse Gedanken muß man totschlagen können.”

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