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Paul Göhre beschreibt einen Wahlkampf der Sozialisten in Chemnitz (1890)

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Für die Verbreitung sonstiger sozialdemokratischer Litteratur sorgte in unserm Bezirke ein wegen des ersten Mai arbeitslos gewordener, der als Kolporteur das sehr interessante sozialdemokratische Witzblatt: „Der wahre Jakob,“ mitunter auch dessen Bruderblatt, die in Wien erscheinenden „Glühlichter,“ vertrieb, Zeichnungen auf die sozialdemokratischen Lieferungswerke annahm und expedierte, Berloques, Streichholzbüchsen, Busennadeln mit den Bildern von Schippel, Bebel, Liebknecht und Photographien von diesen Herren an den Mann zu bringen suchte, und der immer in Versammlungen ebenso wie bei Vergnügungsfesten anwesend, oft auch einer der Mitarrangeure davon war. Was er sonst trieb, weiß ich nicht, jedenfalls aber habe ich ein aufdringliches Bestreben, die Leute, namentlich Neulinge zu bearbeiten, auch an diesem Manne nicht wahrgenommen. Er war der Agent der drei sozialdemokratischen Buchhandlungen, die es auch in Chemnitz gab. Es ist bekannt, daß diese Buchhandlungen, denen manchmal eine Anzahl zweifelhafter Antiquariate sich angliedern, in unerhörter Einseitigkeit nichts als sozialdemokratische Parteilitteratur und außerdem nur solche führen, deren Lektüre doch meistens indirekt eine Förderung der Parteisache bedeutet. Erst neuerdings scheinen sie soviel geistige Freiheit und Unparteilichkeit gewonnen zu haben, daß sie auch Sachen wie Schillers und Goethes Werke, die freilich in ihren Augen Produkte eingefleischter Bourgeois sind, zum Verkauf stellen. Auch diese sozialdemokratischen Buchhandlungen sind Quellpunkte der kraftvollen Agitation, und zeigten sich auch in Chemnitz als bedeutsame Institute der heutigen Volksbildung.

Eine eigentümliche und nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Agitation der Partei besaßen auch die beiden bereits genannten sozialdemokratischen Witzblätter, die jener Kolporteur vertrieb. Wer sie kennt, wird zugestehen, daß sie ganz respektable Leistungen auf ihrem Gebiete sind. Die Bilder sind fast immer künstlerisch gewandt, die Witze, natürlich stets politisch gefärbt und zugespitzt, aber prägnant und schlagend, der Humor gesund und gut. Ihre Existenz ist für mich immer eine Ursache innerer Befriedigung gewesen, denn sie ist mir ein Beweis für den unblutigen Charakter der ganzen großen sozialdemokratischen Geistesbewegung. Eine Bande rabiater Gesellen, eine Partei, deren ausschließliches bewußtes Ziel der Ausbruch einer blutigen Revolution, deren einzige und größte Freude die Vernichtung alles dessen, was ist, sein würde, dächte nicht daran und wäre auch nicht fähig, etwas wie diese Witzblätter zu produzieren. Wo der mit echtem, heiterm Humor durchsetzte Witz im Gegensatz zu der bloßen von Verbitterung und Verbissenheit erfüllten und diktierten Satire zu so harmlosem Ausdruck gelangen kann, wie in diesen beiden Blättern, da ist ein solcher „blutiger“ Verdacht mehr und mehr auszuschließen; da kann man vielmehr auch aus solchen kleinen, an sich geringfügigen Zeichen die Gewißheit nehmen, daß bei allem sittlich Bedenklichen und geistig Unreifen, das dieser Bewegung anhaftet, bei allem ernsten und gefährlichen Explosionsstoff, der in ihr noch unleugbar ruht, doch auch so viel gesunde Kraft und frisches Blut in ihr pulsiert, daß bei richtiger Behandlung und Beeinflussung auch sie noch zu einem bedeutenden gottgewollten und gottgesegneten Faktor in der fortschreitenden Kulturentwicklung der Menschheit erzogen werden kann.

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