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Eine Neueinschätzung des deutschen Liberalismus: Hermann Baumgartens Selbstkritik (Anfang Oktober 1866)

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Ich bin weit davon entfernt, meine liberalen Parteigenossen deshalb tadeln zu wollen, daß sie nicht gleich von vornherein entschieden Partei nahmen für die Bismarcksche Politik. Es gehörte dazu vielleicht eine Unbefangenheit des Urteils und eine Kenntnis der Sachlage, die man nicht von der Masse einer Partei verlangen darf. Daß sie aber noch im Mai, ja noch im Juni mit wenigen Ausnahmen daran festhielten, gegen Bismarck Chorus zu machen mit allem, was in Deutschland reaktionär und antinational war, mit dem dynastischen Partikularismus, mit der in Bequemlichkeit aufgewachsenen und vor preußischer Zucht und Arbeit zitternden Bürokratie der Kleinstaaten, mit dem engherzigen Philistertum, dem es vielleicht recht wäre, wenn die Zahl der deutschen Residenzen verdoppelt würde, mit jenem wirklich traurigen Junkertum, das mit richtigem Instinkt in Preußen den revolutionären Emporkömmling haßt, mit jenen Ultramontanen, deren Liebe zum Hause Habsburg für alle Patrioten ein ausreichender Grund zu der entgegengesetzten Empfindung sein sollte, daß die meisten Vertreter einer freisinnigen deutschen Politik auch dann noch Arm in Arm gingen mit ihren unversöhnlichsten Gegnern, als es längst auf der Hand lag, daß der Sieg Preußens der Sieg einer liberalen und einer nationalen Politik werden müsse, der Sieg Österreichs die Vernichtung aller liberalen und nationalen Hoffnungen, das, ich gestehe es, war das Traurigste, was ein aufrichtig liberaler Mann erleben konnte. Es sprach über die bisher in Deutschland übliche Art von Liberalismus ein Todesurteil, von dem es keine Appellation mehr gab. Es bewies, daß die Partei, an welche sich bisher die Hoffnungen der Nation geknüpft hatten, weder die politische Einsicht, noch die Kraft besaß, durch die allein ein großes Volk zu seinem Heil geführt werden kann.

Ich will, wie gesagt, die Frage nicht diskutieren, ob die nationalliberale Partei von vornherein die Gelegenheit, den unerläßlichen Kampf mit Österreich endlich auszufechten, mit beiden Händen ergreifen oder an ihrer früheren Ansicht, die deutschen Verhältnisse mit der Kraft der liberalen Meinung in friedlichem Weg zu ordnen, festhalten mußte. Ich will zugeben, daß eine Reihe gewichtiger Gründe damals noch gegen die Bismarcksche Politik angeführt werden konnte. Aber seit dem Anfang des Mai lag diese Frage nicht mehr vor. Es handelte sich damals nicht mehr darum, ob der Krieg wünschenswert sei oder nicht, sondern lediglich darum, auf welche Seite sich die Partei in dem unvermeidlich gewordenen Krieg stellen solle. Ich will zugeben, daß auch diese Entscheidung im März erhebliche Schwierigkeiten gehabt hätte, zu einer Zeit, wo man behaupten konnte, daß in dem Kampf auf preußischer Seite lediglich Ziele verfolgt würden, welche die Partei zurückweisen müsse. Aber was von Preußen seit dem Antrag vom 9. April auf Berufung des Parlaments geschehen war, ließ eine solche Behauptung nicht mehr zu.85 Wer sehen wollte, mußte jetzt sehen, daß in dem bevorstehenden Kampf nicht nur entschieden werden müsse, ob Preußen oder Österreich die leitende Macht in Deutschland sein werde, sondern daß Preußen, indem es diese Entscheidung herbeiführe, durch die unwiderstehliche Macht der Verhältnisse gezwungen werde, die Kraft der Nation für sich aufzurufen gegen die engverbundene Phalanx aller auf der Zerrissenheit und Unfreiheit der Nation ruhenden Interessen. Wenn aber die preußische Politik diese Wendung nahm trotz der heftigen Opposition des Liberalismus und der darin gelegenen Nötigung, sich so viel als möglich in Preußen auf die konservative Richtung zu stützen, so war es doch eine Sache der einfachsten politischen Berechnung zu erkennen, daß diese Politik frank und frei auf den Boden eines liberalen Programms sich stellen werde, sobald nur die Liberalen aufhörten, ihr das unmöglich zu machen. Die Wehrufe des Rundschauers86 auf der einen und die unumwundensten Erklärungen der Bismarckschen Organe auf der anderen Seite legten dieses Verhältnis auch für ein ungeübtes Auge bloß, wenn es nur überhaupt sehen wollte.

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