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Der württembergische Demokrat Ludwig Pfau zum deutschen Föderalismus (1864/1895)

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In jedem Staate zeigt sich die Doppelströmung vom Umkreis nach dem Mittelpunkt und vom Mittelpunkt nach dem Umkreis. Neben dem Streben nach Selbstständigkeit der einzelnen Gruppen entwickelt sich das Streben nach einheitlicher Wirksamkeit der Kollektivkraft, und das normale Ergebnis dieses Prozesses ist wie nach außen das Gleichgewicht der Nationalitäten, so nach innen das Gleichgewicht der Gruppen, oder die Föderation. So begann denn auch in Deutschland ein neuer Mittelpunkt sich zu bilden, nachdem die Nation das verräterische Kaiserthum aufgegeben hatte; und die korrekte Strafe, welche die Geschichte über Österreich für das Verbrechen des dreißigjährigen Kriegs verhängte, war das Wachsthum Preußens und der siebenjährige Krieg, der eine Art autihabsburgischen Kaiserthums schuf. Der militärische Ruhm und der autokratische Liberalismus Friedrichs des Großen, der Patriotismus und die Tapferkeit des preußischen Volks in den Befreiungskriegen trugen das ihre dazu bei, den jungen Großstaat an die Spitze Deutschlands zu stellen und die Wünsche aller nach nationaler Einheit strebenden Patrioten an Preußen zu fesseln. Es war natürlich, daß in dem größeren und mächtigeren Staate das patriotische Gefühl zuerst erwachte; denn in kleinen Staaten, wo das Bewußtsein der Kraft fehlt, da fehlt auch der Entschluß zur That. Im Kampfe gegen das Ausland, in Förderung des nationalen Geistes hat sich daher Preußen unbestrittene Verdienste um Deutschland erworben. Aber wie die Einheit nur die eine Seite der politischen Aufgabe ist, so ist auch die Stellung zum Ausland nur die eine Seite der staatlichen Existenz, und wenn im Kriege die äußere Machtfrage allen andern vorgeht, so sind die innern Fragen nationaler Gestaltung und Entwicklung im Frieden um so wichtiger, als von ihnen die Kraft und Gesundheit und somit auch in letzter Instanz die Machtstellung der Nation abhängt. Wenn Preußen der größte deutsche Staat ist, so beweist das noch lange nicht, daß er auch der fähigste sei, eine Aufgabe, deren glückliche Lösung viel mehr eine Frage vorgeschrittener Bildung als brutaler Gewalt ist, nicht nur äußerlich sondern auch innerlich zu vollbringen. Wenn Preußen die Kleinstaaten beschützt hat, so muß man vor Allem nicht vergessen, daß die Kleinstaaten Preußen geschaffen haben, indem sie die deutsche Reformation verteidigten und das römische Kaiserthum bekämpften; daß Preußen keinen innern Existenzgrund hat, sondern nur ein Notbehelf ist, der vorläufig an die Stelle der zertrümmerten Centralgewalt trat, und daß dieses neue Kaiserthum den deutschen, d. h. föderalistischen Elementen der Kleinstaaten noch deutschfeindlicher, d. h. centralistischer gegenübersteht, als das alte römische Reich. Ohne eine Auflösung Preußens in seine Stämme ist die Bildung eines einigen, ganzen und freien Deutschlands eine Unmöglichkeit:

Caeterum censeo Borussiam esse delendam.

Das Streben nach Gleichgewicht, welches die Seele der historischen Entwicklung ist äußert sich in doppelter Form in den äußeren Kämpfen der Gebietsabgrenzung zwischen Reich und Reich, und in den inneren Kämpfen der Rechtsabgrenzung zwischen Individuum und Gemeinde, zwischen Gemeinde und Stamm, zwischen Stamm und Nation. Der äußere Kampf beruht auf der Gewalt, der innere auf der Gerechtigkeit. Beide gehen neben einander her, treten abwechselnd in den Vordergrund, vermischen und trennen sich im Lauf der Geschichte; keiner von beiden aber kann ohne den anderen zu endgiltiger Erledigung kommen, denn diese ist gerade die Ausgleichung des einen durch den andern, d. h. die Übereinstimmung der innern und äußern Politik, oder die Versöhnung von Gewalt und Recht in der Gerechtigkeit: die Gewalt muß das Recht schützen, und das Recht muß die Gewalt sanktioniren.

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