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Das Sozialistengesetz (21. Oktober 1878)

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§ 28. Für Bezirke oder Ortschaften, welche durch die im § 1 Abs. 2 bezeichneten Bestrebungen mit Gefahr für die öffentliche Sicherheit bedroht sind, können von den Zentralbehörden der Bundesstaaten die folgenden Anordnungen, soweit sie nicht bereits landesgesetzlich zulässig sind, mit Genehmigung des Bundesraths für die Dauer von längstens Einem Jahr getroffen werden:

1. daß Versammlungen nur mit vorgängiger Genehmigung der Polizeibehörde stattfinden dürfen; auf Versammlungen zum Zweck einer ausgeschriebenen Wahl zum Reichstag oder zur Landesvertretung erstreckt sich diese Beschränkung nicht;

2. daß die Verbreitung von Druckschriften auf öffentlichen Wegen, Straßen, Plätzen oder an anderen öffentlichen Orten nicht stattfinden darf;

3. daß Personen, von denen eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu besorgen ist, der Aufenthalt in den Bezirken oder Ortschaften versagt werden kann*;

4. daß der Besitz, das Tragen, die Einführung und der Verkauf von Waffen verboten, beschränkt oder an bestimmte Voraussetzungen geknüpft wird.

Ueber jede auf Grund der vorstehenden Bestimmungen getroffene Anordnung muß dem Reichstag sofort beziehungsweise bei seinem nächsten Zusammentreten Rechenschaft gegeben werden.

Die getroffenen Anordnungen sind durch den Reichsanzeiger und auf die für landespolizeiliche Verfügungen vorgeschriebene Weise bekannt zu machen.

Wer diesen Anordnungen oder den auf Grund derselben erlassenen Verfügungen mit Kenntniß oder nach erfolgter öffentlicher Bekanntmachung zuwiderhandelt, wird mit Geldstrafe bis zu eintausend Mark oder mit Haft oder mit Gefängniß bis zu sechs Monaten bestraft.

§ 29. Welche Behörden in jedem Bundesstaat unter der Bezeichnung Landespolizeibehörde, Polizeibehörde zu verstehen sind, wird von der Zentralbehörde des Bundesstaates bekannt gemacht.

§ 30. Dieses Gesetz tritt mit dem Tage der Verkündigung in Kraft und gilt bis zum 31. März 1881**.


* Durch das Gesetz betreffend die authentische Erklärung und die Gültigkeitsdauer des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 31. Mai 1880 (RGBl. 117) erhielt der § 28 folgenden Zusatz: „Die im § 28 Nr. 3 des Gesetzes vom 31. Oktober getroffene Regelung wird dahin erläutert, daß dieselbe auf Mitglieder des Reichstags oder einer gesetzgebenden Versammlung, welche sich am Sitze dieser Körperschaften während der Session derselben aufhalten, keine Anwendung findet. Die Beschwerde gegen die Verfügungen, welche auf Grund der gemäß § 28 des vorbezeichneten Gesetzes getroffenen Anordnungen erlassen werden, findet nur an die Aufsichtsbehörden statt.” [Alle Fußnoten stammen aus: Ernst Rudolf Huber, Hg., Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, 3. überarb. Ausg., Bd. 2, 1851-1900. Stuttgart: Kohlhammer, 1986, S. 464-69.]
** Die Geltungsdauer des Sozialistengesetzes wurde viermal verlängert, und zwar durch die Reichsgesetze vom 31. Mai 1880 (RGBl. 117), 28. Mai 1884 (RGBl. 53), 20. April 1886 (RGBl. 77) und 18. März 1888 (RGBl. 109), zuletzt bis zum 30. September 1890. Da die geforderte fünfte Verlängerung im Reichstag am 25. Januar 1890 scheiterte, trat das Gesetz am 30. September 1890 außer Kraft.



Quelle: Das Staatsarchiv, Bd. 34, Nr. 6797 (1878): S. 45ff, auch Reichsgesetzblatt (1878), S. 351ff.

Abgedruckt in Ernst Rudolf Huber, Hg., Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, 3. überarb. Ausg., Bd. 2, 1851-1900. Stuttgart: Kohlhammer, 1986, S. 464-69.

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