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Arbeiterwohnungen in Chemnitz und Berlin (1890)

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Die meisten und größten dieser Übel kamen jedenfalls durch das Schlafstellen- und Kostgängerunwesen. Das ist der Ruin der deutschen Arbeiterfamilie. Aber es ist für sie in den allermeisten Fällen eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Der geringe materielle Vorteil, der dabei herauskommt, ist ein ersehnter Zuschuß zum Wirtschaftsgeld der Arbeiterfrau. Daß die Arbeiter sich nur zum Spaße mit solchen Fremden herumplagen, braucht niemand zu glauben. Im Gegenteil machte ich häufiger die Erfahrung, daß, wer es durchsetzen kann, womöglich sich diese Leute vom Halse und aus dem Hause hält. Wenn man es aber thut, nimmt man jedenfalls immer lieber junge Männer als junge Mädchen.

Es gab ganz bestimmte, von einander verschiedene Arten von Schlafstellen, bessere und schlechtere. Die traurigsten, moralisch und sanitär gefährlichsten hat glücklicherweise eine verständige und nachahmungswerte Verordnung des Chemnitzer Amtshauptmanns unmöglich gemacht. Durch diese Verordnung wurde für jeden Schläfer ein nach Kubikmetern bestimmter notwendiger Raum vorgeschrieben und den einzelnen Familien das gleichzeitige Halten von Schlafburschen und Schlafmädchen streng untersagt. Bei meinen Besuchen und Gängen fand ich etwa noch folgende Arten an:

a) Schlafstellen unter dem Dache, in den obengeschilderten Bretterverschlägen. Hier pflegte fast jede Familie ein bis drei Betten stehen zu haben. Und keine Etage des ganzen Hauses war des Nachts oft dichter besetzt, als diese Dachräume, deren schiefe Decke Dachsparren und die nackten Ziegel bildeten. In alten Häusern mußten es, namentlich im heißen Sommer, nächtliche Marterkästen sein; in solider gebauten waren es mit die besten Schlafräume. Jedenfalls hatte diese Art von Schlafstellen den großen Vorzug, daß sie des Nachts den Fremden von der ihn beherbergenden Familie isolierte. Sie waren ungemein zahlreich und je nach ihrer Güte teurer oder billiger. Die geringwertigere Sorte bevorzugten mit Vorliebe die anspruchslosen böhmischen Maurer und Erdarbeiter, die nur den Sommer über hier auf Arbeit waren. Der wöchentliche Durchschnittspreis war etwa zwei Mark; dafür bekam man noch den Morgenkaffee. Bei kleinen Meistern schlafen die Lehrjungen, ab und zu auch einer ihrer Gesellen hier, manchmal mit einem oder mehreren fremden Schlafburschen zusammen. In kleinen Beamten-, Kaufmanns- oder ähnlichen Familien, wo ein Dienstmädchen nötig gebraucht wird, und die Wohnräume knapp sind, wird auch deren Bett mitunter, dann natürlich allein, hier aufgestellt. Außer der Bettstelle und einigen Nägeln in der Wand giebts gewöhnlich kein Mobiliar in diesem Gelaß, es sei denn, der Fremde brächte sich eine Kommode oder eine Kiste mit. Jenes passiert selten, dies häufig. Die paar Kleider, die so ein Menschenkind zu besitzen pflegt, werden dann an die eingeschlagenen Nägel gehängt, die Wäsche und die andern Siebensachen in der Kiste und das andre Paar Stiefel in einer Ecke der Bodenkammer untergebracht. Wer ganz billige Unterkunft haben wollte oder mußte, mietete sich solchen Bretterverschlag mit einem Bette mit einem Freunde zusammen.

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