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Richard Wagner, Was ist Deutsch? (1865/1878)

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Ein Volk, welches numerisch auf den zehnten Teil seines früheren Bestandes herabgebracht war, konnte, seiner Bedeutung nach, nur noch in der Erinnerung Einzelner bestehen. Selbst diese Erinnerung mußte von den ahnungsvollsten Geistern erst wieder aufgesucht und anfänglich mühsam genährt werden. Es ist ein wundervoller Zug des deutschen Geistes, daß, nachdem er in seiner früheren Entwicklungsperiode die von außen kommenden Einflüsse sich innerlichst angeeignet hatte, er nun, da der Vorteil des äußerlichen politischen Machtlebens ihm gänzlich entschwunden war, aus seinem eigensten innerlichen Schatze sich neu gebar. – Die Erinnerung ward ihm recht eigentlich zur Erinnerung; denn aus seinem tiefsten Innern schöpfte er, um sich der nun übermäßig gewordenen äußeren Einflüsse zu erwehren. Nicht seiner äußerlichen Existenz galt es, denn diese war dem Namen nach durch das Bestehen der deutschen Fürsten gesichert; bestand ja sogar der Name des römisch-deutschen Kaisertitels fort! Sondern sein wahrhaftigstes Wesen, wovon die meisten dieser Fürsten nichts mehr wußten, galt es zu erhalten und zu neuer Kraft zu erheben. In der französischen Livree und Uniform, mit Perücke und Zopf, und lächerlich nachgeahmter französischer Galanterie ausgestattet, trat ihm der dürftige Rest seines Volkes entgegen, mit einer Sprache, die selbst der mit französischen Floskeln sich schmückende Bürger im Begriffe stand, nur noch dem Bauern zu überlassen. – Doch wo die eigene Gestalt, die eigene Sache selbst sich verlor, blieb dem deutschen Geiste eine letzte, ungeahnte Zuflucht, sein innigstes Inneres sich deutlich auszusprechen. Von den Italienern hatte der Deutsche sich auch die Musik angeeignet. Will man die wunderbare Eigentümlichkeit, Kraft und Bedeutung des deutschen Geistes in einem unvergleichlich beredten Bilde erfassen, so blicke man scharf und sinnvoll auf die sonst fast unerklärlich rätselhafte Erscheinung des musikalischen Wundermannes Sebastian Bach. Es ist die Geschichte des innerlichsten Lebens des deutschen Geistes während des grauenvollen Jahrhunderts der gänzlichen Erloschenheit des deutschen Volkes. Da seht diesen Kopf, in der wahnsinnigen französischen Allongenperücke versteckt, diesen Meister – als elenden Kantor und Organisten zwischen kleinen thüringischen Ortschaften, die man kaum dem Namen nach kennt, mit nahrungslosen Anstellungen sich hinschleppend, so unbeachtet bleibend, daß es eines ganzen Jahrhunderts wiederum bedurfte, um seine Werke der Vergessenheit zu entziehen; selbst in der Musik eine Kunstform vorfindend, welche äußerlich das ganze Abbild seiner Zeit war, trocken, steif, pedantisch, wie Perücke und Zopf in Noten dargestellt: und nun sehe man, welche Welt der unbegreiflich große Sebastian aus diesen Elementen aufbaute! Auf diese Schöpfung weise ich nur hin; denn es ist unmöglich, ihren Reichtum, ihre Erhabenheit und alles in sich fassende Bedeutung durch irgendeinen Vergleich zu bezeichnen. Wollen wir uns jetzt aber die überraschende Wiedergeburt des deutschen Geistes auch auf dem Felde der poetischen und philosophischen Literatur erklären, so können wir dies deutlich nur, wenn wir an Bach begreifen lernen, was der deutsche Geist in Wahrheit ist, wo er weilte, und wie er rastlos sich neu gestaltete, während er gänzlich aus der Welt entschwunden schien. Von diesem Manne ist neuerlich eine Biographie? erschienen, über welche die »Allgemeine Zeitung« berichtete. Ich kann mich nicht entwehren, aus diesem Berichte folgende Stellen anzuführen: »Mit Mühe und seltener Willenskraft ringt er sich aus Armut und Not zu höchster Kunsthöhe empor, streut mit vollen Händen eine fast unübersehbare Fülle der herrlichsten Meisterwerke seiner Zeit hin, die ihn nicht begreifen und schätzen kann, und stirbt bedrückt von schweren Sorgen einsam und vergessen, seine Familie in Armut und Entbehrung zurücklassend – das Grab des Sangesreichen schließt sich über dem müden Heimgegangenen ohne Sang und Klang, weil die Not des Hauses eine Ausgabe für den Grabgesang nicht zuläßt. Sollte eine Ursache, warum unsre Tonsetzer so selten Biographen finden, teilweise wohl auch in dem Umstande zu suchen sein, weil ihr Ende gewöhnlich ein so trauriges, erschütterndes ist?« – – Und während sich dies mit dem großen Bach, dem einzigen Horte und Neugebärer des deutschen Geistes, begab, wimmelten die großen und kleinen Höfe der deutschen Fürsten von italienischen Opernkomponisten und Virtuosen, die man mit ungeheuren Opfern dazu erkaufte, dem verachteten Deutschland den Abfall einer Kunst zum Besten zu geben, welcher heutzutage nicht die mindeste Beachtung mehr geschenkt werden kann.

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