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Die Sexualmoral der Frauen aus der Arbeiterklasse: Aus männlicher Sicht (1890)

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Die übrigen Säle, die ich sonst sah, standen nach dem äußern Eindruck, den sie machten, etwa in der Mitte zwischen beiden. Meist waren es Vorortssäle mit halb städtischem und halb ländlichem Charakter und ebensolchem halb städtischen halb ländlichen Publikum. Hier mischten sich unter die modischen Toiletten der zur Stadt hereinkommenden Fabrikarbeiter und Arbeiterinnen noch die unschönen Kostüme unsrer Dorfbewohner; hier waren die Mädchen mitunter noch im Kopftuch und mit vorgebundener schöner bunter Schürze. Auch die Musik war primitiver, der Eintrittspreis niedriger, nur 25 Pfennige etwa, während er in dem Kappeler Saale, wenn ich mich recht entsinne, 50 Pfennige betrug. Natürlich kostete hier wie dort noch jeder Tanz, den man tanzte, seine Extrasteuer, immer 10 Pfennige. So gab einer leicht am Abend 3 bis 4 Mark nur für das bloße Tanzvergnügen aus. Auch der Ton, der auf diesen Sälen herrschte, war freier als auf jenem. Man sang laut Lieder zu den Weisen, die die Musikanten aufspielten, man juchzte und rief laut über die Köpfe und den Saal hinweg. Manchmal war ein dichtes Gedränge und eine unausstehliche Hitze, daß der Schweiß nur so von der Stirne rann, und Glas auf Glas getrunken wurde. Aber dann wars am schönsten und die Freude am größten.

In den bessern Sälen ging es auch in diesem, aber auch nur in diesem Sinne anständiger zu. Da scherzte und lachte und tollte man sich denn an den einzelnen Tischen, im kleinern Kreise der Bekannten, in den Ecken und Nischen des Saales und auf den Galerien umso mehr aus. Da koste und umschlang und drückte man sich. Und hier wie dort, lachende, glühende, oft schöne Gesichter, leuchtende, lebensprühende Augen, kräftige Gestalten, volle, frische Formen. Hier wie dort ungebändigte Lust, steigende Erregung, sinnlicher Taumel, der seinen Abschluß und seinen Höhepunkt erreicht, wenn Schlag 12 Uhr die Musik verstummt, der Saal geräumt, die Lichter verlöscht werden. Dann zieht Paar nach Paar einsam von dannen, zu einem Nachtspaziergang ins freie Feld, wo nur die Sterne die Sünde sehn, die man hier begeht, oder bis in Liebchens Hausflur oder gar in Liebchens Wohnung und Bett. Denn das ist nach allen meinen Beobachtungen wenn auch nicht die durchgängige Regel, so doch in den weitaus überwiegenden Fällen der Abschluß jedes sonntäglichen Tanzvergnügens. Auf den Tanzböden, in den Nächten vom Sonntag zum Montag verliert heutzutage unsre Arbeiterjugend nicht nur ihren meist sauer verdienten Lohn, sondern auch ihre beste Kraft, ihre Ideale, ihre Tugend und ihre Keuschheit. Es ist ja auch kein Wunder; es wäre ein Wunder, wenn es anders wäre. Man überlege nur einmal. Während der Woche, Tag um Tag in regelmäßiger Einförmigkeit in der häßlichen Fabrik, bei oft langweiliger Arbeit, in Schmutz und Schweiß; des Mittags ohne behagliche Ruhe; die Abende der Werktage auf der Straße vor der Thür oder im Hofe des Arbeiterhauses oder in der kleinen engen, oft dürftigen Stube des Logiswirts mit Kindergeschrei und Küchendunst; die Nächte in armseligen Schlafstätten; dabei ein leidlicher Verdienst, ohne Kontrolle, ohne Aufsicht, ohne elterliche Fürsorge und Liebe, kurz ohne den segensvollen Einfluß eines starken Familienverbandes, Jugendkraft in den Gliedern, Jugendlust in Kopf und Herzen – und nun kommt der Sonntag mit seinem Ausschlafen, seinem Ausruhn, seiner Freiheit, die ihnen niemand kürzt, deren rechten Gebrauch sie keiner lehrt: da locken die Töne der Musik; da lachen junge frische Mädchengesichter; da strahlt lichter Glanz; da wölben sich die hohen weiten Hallen des schön gemalten Saales; ja hier ist Ersatz für das häßliche Einerlei der Woche, an einem Abend, in einer Nacht hundertfacher Ersatz für die hundert häßlichen Eindrücke der ganzen Woche! Ist es da wirklich noch verwunderlich, wenn sich die Ungebundenen da hineinstürzen in den herrlichen, entzückenden Strudel, ihre Seelen an ihm berauschen, ihr Bestes in ihm verlieren? Ich klage nicht an, ich entschuldige auch nicht, ich schildre nur, wie es in Wahrheit ist, und erkläre, wie es mit Notwendigkeit so kommen muß.

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