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Frau Marion Beymes Erinnerungen an Marburg und Berlin während der NS-Zeit (Rückblick, Anfang der 90er Jahre)

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Frau Beck erwies sich als so vorausschauend wie immer. »Ich saß mit meiner Mutter zusammen und hörte Radio. Da wurden große Reden geschwungen über Kanonen statt Butter. Da sagte meine Mutter gleich: ›Jetzt ist es mit uns zu Ende. Das geht nicht gut, und das ist das Furchtbarste, was passieren konnte.‹ Sie sah eigentlich gleich, daß wir den Krieg verlieren würden, was das für Verluste bringen würde auf allen Seiten. Das hat die gleich so hellsichtig vor Augen gehabt.«

Die Sorge der Familie richtete sich sofort auf die Wehrpflicht und Marions Bruder Joachim. »Der Bruder mußte Soldat sein, gegen den Wunsch meiner Mutter. Es blieb ihm gar nichts übrig. Er brauchte aber nicht zur kämpfenden Truppe, weil er der einzige Sohn eines gefallenen Vaters war, der letzte männliche in der Familie. Er brauchte nicht an die Front, sondern er konnte nachher sogar studieren, Medizin studieren. Im Krieg. Aber er hat doch ziemlich Schwierigkeiten gehabt.«

Sie sagte, ein Unteroffizier beschwerte sich in der Kaserne darüber, daß Joachim seine Unterwäsche nicht ordentlich zusammengelegt habe. Joachim antwortete, daß es doch wohl keine Rolle spiele, mitten im Krieg, und setzte hinzu: »›Sie sind mir ein schönes Stück Scheiße.‹« Die Bemerkung war ein Gesetzesverstoß, und Joachim wurde vor ein Kriegsgericht gestellt. Seine schockierte Familie hatte dann »alle möglichen Leute hier mobil gemacht, ob sie ihm nicht helfen konnten. Dann hat sich hier ein sehr netter Rechtsanwalt gefunden, der war in der Partei. Aber er war kein Nazi. So was gab’s hier auch. Und der hat meinem Bruder helfen können.« Joachim wurde freigelassen, dann nach Frankreich geschickt.

An der »Heimatfront« in Marburg hatte sich ein vierköpfiges Matriarchat gebildet, Frau Beck, die zukünftige Frau Beyme und die beiden Kinder Annegret und Joachim (benannt nach seinem Onkel), geboren 1944. Das Leben bestand einesteils aus Plackerei, andernteils aus Terror.

Eine Plackerei war zum Beispiel der Einkauf von Milch, der laut Frau Beyme jeden Tag mindestens zwei Stunden in Anspruch nahm – fünfundvierzig Minuten für den Fußweg hin und zurück, der Rest Wartezeit. »Wenn der Mann, der die Mich verkaufte, schließlich kam, dann standen da schon fünfzig Frauen mit ihren kleine Milchkannen, und dieser Milchmann war ein Sadist, der hat es so richtig genossen. Der hat ja so geguckt, wie die alle da standen und gierig auf die Milch warteten, und dann hat er da erst so ganz schön langsam gemacht, so daß alles noch nervöser wurden und noch länger warten mußten. Dann wurden Witze gemacht, und dann schließlich kriegten wir unser kleines bißchen Milch. Die war ganz hellgrau, nicht weiß; die war so dünn, die sah ganz blau aus.«

Manchmal nahm sie Annegret oder das Baby mit. Gegen Ende des Krieges ging Annegret nicht mehr zur Schule; die war geschlossen, teils auch wegen der Bombenangriffe. (Die Wirkung der Bomben auf Annegret zeigte sich Jahrzehnte später, als Mutter und Tochter zusammen waren. Ein Pilot, der Kunststücke machte, flog plötzlich so tief – vielleicht, um eine Freundin zu beeindrucken –, daß alle sich druckten. Doch Annegret verschwand. »Wir fanden sie hingekauert in einem Erdloch. Da hatte sie sich vor Schreck verkrochen, ein Kriegskind.«)

Ein Vorteil des Lebens abseits der Hauptangriffsziele, wie es die Familie führte, war, daß weniger Bomben abgeworfen wurden. Ein Nachteil war, daß es weinger Luftschutzbunker gab. Jeder hatte Angst, wo immer er auch Schutz suchte. »Wir hatten gar keine Luftschutzkeller. Wir konnten nur in den Keller unseres Hauses gehen. Das konnte unter Umständen noch viel schlimmer sein, wenn du da verschüttet wirst. Was ganz schlimm kam im letzten Jahr, mein Sohn wurde gerade erst geboren, und ich bin überhaupt nicht mehr in den Keller gegangen, weil ich das Kind auch nicht aus dem Schlaf reißen wollte und hoffte, wir hätten Glück. Ich wollte das Kind nicht so nervös machen. Und am Tage sind wir oft in den Wald gegangen. Und dann bin ich zwischendurch immer noch nach Hause, was zu essen holen oder frische Wäsche für das Baby, wir konnten nicht alles gleich mitnehmen. Und manchmal habe ich schnell die Milch warm gemacht oder die Suppe gekocht. Wir hatten diese Milchkanne, die man ans Rad hängen konnte, die habe ich in den Wald geholt.«

Nach Marburg kam der Krieg auch in Gestalt von Gefangenen.

»Im Kohlengeschäft war ein Franzose, der schleppte die Kohlen auf dem Rücken in einem Sack in den Keller. Das war ein französischer Kriegsgefangener. Und dem konnten wir immer mal, wir hatten auch nicht viel, aber einen Apfel oder so was geben. Am helllichten Tag haben wir das nicht tun können. Aber was mir in schrecklicher Erinnerung ist, wir wohnten damals hier schräg gegenüber, wo man die Straße gut übersehen konnte. Und jeden Morgen um vier hörte man Tappen, Tappen, Tappen, da kamen russische Gefangene aus einem Lager hier in der Nähe, die wurden zur Arbeit gebracht. Ich glaube, nach Allendorf. Die wurden hier zu unserem kleinen Bahnhof gebracht. Und ich bin jeden Morgen um vier wach geworden und bin aufgestanden und habe diese traurigen Gestalten vorbeigehen sehen – zum Teil ohne Schuhe. Im Winter, bei Eis und Schnee. Und ganz verhungert und ganz zerlumpt. Aber denen hab ich nie was geben können. Da war immer Bewachung dabei. Deutsche Soldaten. Das war einem nicht möglich.«

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