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Frau Marion Beymes Erinnerungen an Marburg und Berlin während der NS-Zeit (Rückblick, Anfang der 90er Jahre)

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Und sie gab auch ihren Berliner Bibliotheksjob nicht auf, obwohl ihr Chef erwartungsgemäß Mitglied der Nazi-Partei war. »Ich würde gar nicht mal sagen, ein großer Hitler-Anhänger, aber einer, der so stolz war auf die nordische Rasse.« Er war ein Schüler des damals sehr bekannten Professors Hermann Wirth, der sich eingehend mit alten nordischen Traditionen beschäftigt and alles von Runenzeichen bis zu antiken germanischen Weihnachtsbräuchen erforscht hatte.

Und er war hingerissen von seiner neuen Angestellten. »Es war zum Lachen. Alles, was ich sagte, war großartig und wundervoll, nur weil ich blond war. Wir bekamen immer Bücher mit nach Hause, die wir lesen und besprechen mußten, damit wir Leser beraten konnten, was drinsteht. Wir konnten nicht jedes Buch lesen, und da wurde das verteilt. Man setzte sich in der Woche zusammen und erzählte, das ist so ein Buch, und da steht drin, oder das ist für einfache Leute, und das ist ein phantastisches Buch, das ist ganz kompliziert im Stil, das darf man nur anspruchsvollen Leuten geben und so was. Und wenn ich sagen mußte, was ich gelesen habe und was ich darüber dachte, hieß es immer: ›Großartig, das ist wirklich wieder das natürliche und gesunde Empfinden.‹

Wir hatten weiße Kittel an in der Bibliothek. Das ist immer sehr staubig, wenn man mit Büchern zu tun hat. So ein Kittel ist eine ganz praktische Sache. Und da ich in Berlin nur ein möbliertes Zimmer hatte, schickte ich meine Wäsche nach Hause, zu meiner Mutter. Sie fand das mit den weißen Kitteln unmöglich, daß sie immer weiße Kittel waschen und dann hinschicken mußte. Sie machte einen buntgestreiften Kittel, der länger sauber aussah. Ich kam also eines Tages damit an, und dann hieß es: ›Das ist doch das richtige Empfinden wiederum. Nicht dieses sterile Aussehen, sondern wieder das gesunde Empfinden, Farbe.‹ Na ja, es war wieder das Richtige.

Wenn wir mal aus irgendeinem Grund nachmittags freihaben wollten, dann hieß es, ich solle doch mal hingehen und fragen. Dann wurde mir meistens gesagt, ja, ist gut. Und nur wegen der blonden Haare. Aber eines Tages war es doch aus.«

Dieser Tag kam im Jahr 1938. Frau Beyme war keine ledige Bibliothekarin mehr, sondern eine Ehefrau (verheiratet mit ihrem ersten Ehemann, einem Herrn Jahn, mit einem Baby, einem Mädchen namens Annegret).

»Ich fuhr in Berlin mit meiner Tochter im Kinderwagen spazieren. Und da begegnete mir dieser Direktor von der Bibliothek und sagte: ›Ach, darf ich mal reingucken?‹, und dachte sicher, das ist ein ganz schönes blondes blauäugiges Kind drin. Meine Tochter hatte zu Anfang an ganz schwarze Haare und sah aus wie aus der kaukasischen Steppe oder so was. ›Oh!‹ sagte er nur.«

Sie lachte. »Entsetzt! ›Oh!‹« Sie lachte wieder. »Das war das Ende der Begeisterung. Ja, er hat wahrscheinlich gedacht, ich hätte irgendeinen Ausländer geheiratet, keinen reinrassigen Deutschen oder irgend so was.«

Übrigens hatte Leonard Beyme, den sie noch lange nach dem Krieg heiratet [sic], selber Schwierigkeiten mit rassischen Stereotypen. Die beiden geben heute ein ungewöhnlich eindrucksvolles Paar ab, wenn sie Hand in Hand durch die Straßen gehen, doch in den dreißiger Jahren konnte er sich nicht mit derselben Leichtigkeit bewegen wie sie. »Ich bin immer als Jude behandelt worden. Ich war klein, ich hatte eine krumme Nase, ich hatte dunkle Haare und Locken und was weiß ich. Ich hab’ das also mitgekriegt, obwohl ich keiner bin, nicht wahr?« Während seiner Studienzeit in Marburg, erzählt er, ging er einmal die Stufen zu einem Seminargebäude hinauf, als SA-Männer die Tür verstellten. Sie schrien ihn an: »Raus! Juden raus!« Um einer solchen Behandlung zu entgehen, floh er – zur deutschen Armee. Er wurde nach Frankreich und nach Rußland geschickt und fünfmal verwundet.

Am Tag des Kriegsbeginns floh Frau Beyme nach Hause. »Als ich morgens irgend etwas einkaufen wollte, [sah ich] überall große Plakate, daß Krieg erklärt worden sei. Da habe ich mich so wahnsinnig erschrocken und habe gedacht, das geht sofort los, mit Bomben – was ja noch viel länger dauerte – und habe mein Kind genommen und die wichtigsten Sachen und bin hierher gekommen, wo meine Mutter wohnte. Weil ich dachte, in einer Kleinstadt kann es nicht so schlimm sein wie in einer Großstadt, was ja auch richtig war.«

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