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Frau Marion Beymes Erinnerungen an Marburg und Berlin während der NS-Zeit (Rückblick, Anfang der 90er Jahre)

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Wenn auch die Konsequenzen des Betretens jüdischer Läden, des Verstoßes gegen die Flaggenordnung und der Weigerung, Naziversammlungen zu besuchen, nicht genau bekannt waren (und trotzdem gefürchtet wurden), war es doch kein Geheimnis, was Leuten passierte, die beim Anhören ausländischer Radiosender erwischt wurden. So erging es zum Beispiel Marion Beymes Religionslehrerin. Marion hatte nicht gewußt, daß die Lehrerin eine zum Christentum konvertierte Jüdin war. (Mein anfängliches Mißverständnis, zu welcher Religion sie konvertiert sei, klärte Frau Beyme prompt auf: »Jüdische Rasse. Christlichen Glaubens.« Die Lehrerin, »eine hochintelligente Frau«, unterrichtete nicht nur Religion am Gymnasium, sondern hielt auch an der Universität Gießen Vorlesungen über das Christentum. »Sie hat sich wahrscheinlich kaum noch als Jüdin gefühlt. Das war für viele eine Überraschung, daß sie sich wieder bewußt wurde, ich bin ja Jude. Und sie lebte, wie ich später erfahren habe, mit ihrer nicht-jüdischen Freundin in einer Wohnung zusammen. Die Wohnung war wohl ziemlich groß, ich habe sie nicht gesehen, und sie hat zwei oder drei Studenten untervermietet. Und diese Studentinnen haben gehört, daß diese beiden Damen ausländische Sender gehört haben und haben das ihrem Professoer [sic] an der Universität erzählt. Dieser Professor war ein Obernazi, und der hat dafür gesorgt, daß beide – die Jüdin und die Nichtjüdin – ins Zuchthaus kamen, das ist hier in die Nähe, Ziegenhain heißt der Ort. Die Freundin, also die Nichtjüdin, ist da schon gestorben, weil sie die straffe Zucht nicht verkraftet hat.

Zu meinem großen Erstaunen sah ich meine alte Lehrerin [später] hier auf der Straße wieder. Ich ging auf sie zu und redete sie mit Namen an und wollte gerade Fragen, wie geht es Ihnen denn nur, und da sagte sie« – Frau Beyme senkte ihre Stimmung zu einem Flüstern – »›Schnell weg, schnell weg.‹ Ich durfte mit ihr nicht sprechen. Ich habe dann erfahren, daß sie nur kurze Zeit hatte, einen Tag oder zwei, um irgendwelche Papiere zu holen, und dann wurde sie ins Konzentrationslager gebracht.« Frau Beyme hielt inne. »Nach Theresienstadt.« Eine längere Pause. »Und ich fand es so sehr anständig von ihr, daß sie mich nicht in Gefahr bringen wollte. Ihr konnte schon gar nichts Schlimmeres mehr passieren, aber sie wollte nicht, daß auch anderen etwas passiert. Ja, wenn uns jemand gesehen hätte, dann wäre ich wahrscheinlich mit ihr ins KZ gekommen.«

Über das »wahrscheinlich« könnte man geteilter Meinung sein, aber die Gefahr war zweifellos vorhanden. Wie auch die andere Gefahr. Frau Beck stelle ihr Radio noch immer auf den Feindsender ein. »Sie hat auch im Krieg die Auslandssender gehört, was ja sehr streng verboten war. Und sie hat immer Angst gehabt, jemand könnte an der Hauswand horchen und hören, daß wir Fremdsender hören. Meine Mutter und ich waren technisch völlig ungebildet und haben immer gedacht, ob man wohl eine Gerät an unsere Hausmauer machen kann, so daß man von außen hört, daß wir drinnen den ausländischen Sender hören. Wir wußten nicht, ob es eine Gefahr war oder nicht. Aber es ist nichts passiert.« Und durch die Rundfunksendung »wußten wir doch immer eine ganze Menge und wußten eben auch, daß vieles nicht wahr ist, was man uns hier gesagt hat.«

Frau Beck hätte ihre Abneigung gegen die Nazis zweifellos auch auf andere Weise gezeigt. »Sicherlich wäre sie, wenn sich im Bus oder in der Straßenbahn ein SS-Mann neben sie gesetzt hätte, aufgestanden und weggegangen. Das glaube ich bestimmt.« Frau Beyme sagte, sie habe sich Sorgen gemacht, ihre Mutter könnte ihre Meinung offener aussprechen, als es klug gewesen wäre. Doch nie sei etwas passiert. Sie lebten weiterhin an der Grenzlinie zwischen Mut, Glück und Angst.

Frau Beyme hatte außer Marburg noch einen anderen Beobachtungspunkt. Sie hatte Berlin. Obwohl sie oft Marburg besuchte, zog sie im Frühjahr 1933 nach Berlin und lebt dort fünf Jahre, um ihre Ausbildung zur Bibliothekarin zu machen. Ich hatte angenommen, daß dies ihr Wunsch gewesen sei, doch viel später deutete sie an, daß sie ihre Wünsche herabgesetzt, nicht hochgeschraubt hatte, um Bibliothekarin zu werden.

Berlin war – seinem Ruf gemäß – trotz der Nazis eine »unglaublich anregende, lebhafte Stadt.« Marion, damals ungefähr dreiundzwanzig Jahre alt, bekam einen Job in einer Außenstelle der Berliner Stadtbibliothek. Zu ihren ersten Eindrücken gehörte etwas, was für eine junge Bibliothekarin besonders schmerzlich war: die Bücherverbrennung der Nazis.

»Ich hörte nur plötzlich, da werden Bücher verbrannt. Und bin eben mit eigenen Bekannten zusammen da hin, um zu sehen, ob das wirklich wahr ist. Ich habe das riesige Feuer gesehen. «Band um Band wurden Bücher von marxistischen, jüdischen und anderen unliebsamen Autoren wie Thomas Mann (der eine jüdische Frau hatte) vernichtet. »Sie warfen die Bücher voller Begeisterung hinein. Die meisten waren begeistert. Diejenigen, die es schrecklich fanden, sind zumeist natürlich nicht hingegangen.«

Der grobschlächtige Übergriff der Nazis auf die deutsche Kultur veranlaßte eine ihrer Cousinen, eine junge Studentin der Bildhauerei, aus Deutschland zu fliehen. Auf die Frage, ob sie selbst etwas erwogen habe, sagte Frau Beyme: »Nein. Wenn ich es ehrlich sagen soll, nein. So viel Courage habe ich nicht gehabt, oder so viel Selbständigkeit.«

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