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Carl Schurz erklärt, warum er zu einem Befürworter der republikanischen Regierungsform wurde (Rückblick, 1913)

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Andererseits hatte die sichtbare Zunahme der Reaktion zur Folge, bei denjenigen, die ernsthaft für die nationale Einheit und eine konstitutionelle Regierung eintraten, eine Gesinnung hervorzurufen, die radikalen Tendenzen gegenüber aufgeschlossener war. Die Schnelligkeit dieser Entwicklungen war in meinem eigenen Umfeld deutlich zu spüren. Unser demokratischer Club setzte sich fast zu gleichen Teilen aus Studenten und Bürgern zusammen, unter denen sich viele exzellenten Charakters, einigen Vermögens, hohen Ansehens und gemäßigter Ansichten fanden, während ein paar andere sich in eine Gesinnung gesteigert hatten, ähnlich derjenigen der Terroristen in der Französischen Revolution. Kinkel war anerkanntermaßen der Anführer des Clubs, und ich wurde bald Mitglied des Vorstands. Zunächst hätte uns noch die Bildung einer konstitutionellen Monarchie mit allgemeinem Wahlrecht und gesicherten Bürgerrechten zufrieden gestellt. Aber die Reaktion, deren bedrohlichen Aufstieg wir beobachteten, ließ in vielen von uns allmählich die Überzeugung reifen, daß die Freiheit des Volkes nur in einer Republik gesichert war. Von hier aus war es nur ein Schritt zu der Schlußfolgerung, daß in einer Republik, und zwar nur in einer Republik, alle Übel der Gesellschaft geheilt werden könnten und die Lösung aller politischen Probleme möglich wäre. Den Idealismus, der in dem republikanischen Bürger die höchste Verkörperung menschlicher Würde sah, hatten wir durch unsere Studien der klassischen Antike gewonnen, und die Geschichte der Französischen Revolution bestätigte uns darin, daß auch in Deutschland eine Republik gegründet werden und im europäischen Staatensystem bestehen könnte. In dieser Geschichte entdeckten wir eindrucksvolle Beispiele für die Möglichkeit, das scheinbar Unmögliche zu erreichen, wenn nur die gesamte Kraft, die in einer großen Nation schlummerte, geweckt und mit unbeirrbarer Unerschrockenheit gelenkt wurde. Die meisten unter uns schreckten natürlich vor den wilden Exzessen zurück, die den nationalen Aufstand in Frankreich während der Schreckensherrschaft mit Strömen unschuldigen Blutes besudelt hatten, aber wir hofften, die nationalen Kräfte ohne derartigen Terrorismus entfachen zu können. In jedem Fall lieferte uns die Geschichte der Französischen Revolution eine Fülle von Vorbildern, die unsere Vorstellungskraft aufs äußerste erregten. Wie gefährlich und verführerisch ein solches Gedankenspiel ist, war uns damals natürlich nicht bewußt.

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Quelle: Carl Schurz, The Reminiscences of Carl Schurz. 3 Bände. New York: Doubleday, Page & Company, 1913, Band 1, S. 133-37.

Übersetzung: Katharina Böhmer

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