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Carl Schurz erklärt, warum er zu einem Befürworter der republikanischen Regierungsform wurde (Rückblick, 1913)

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Eine Zeit lang schien dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. seine Rolle als Führer der nationalen Bewegung, die ihm die Revolution hatte zukommen lassen, zuzusagen. Sein unbeständiger Charakter schien von neuer Begeisterung entflammt zu sein. Er ging auf den Straßen spazieren und sprach offen mit dem Volk. Er redete von konstitutionellen Regierungsprinzipien, die selbstverständlich eingeführt werden sollten. Lauthals pries er die edle Großherzigkeit, die ihm die Berliner in der Stunde der Bedrängnis erwiesen hatten. Er befahl der Armee, die schwarz-rot-goldene Kokarde zusammen mit der preußischen zu tragen. Auf dem Potsdamer Exerzierfeld erklärte er den beleidigten Gardeoffizieren, „daß er sich selbst gänzlich sicher, frei und glücklich mitten unter den Berliner Bürgern fühle; daß alle von ihm gemachten Zugeständnisse aus seinem eigenen freien Willen und seiner eigenen Überzeugung heraus gemacht worden seien und daß keiner es wagen solle, dies in Frage zu stellen.“ Aber als die preußische gesetzgebende Versammlung in Berlin zusammentrat und damit begann, Gesetze zu verabschieden, verfassungsmäßige Vorschriften zu entwerfen und im Geist der Revolution in das politische Tagesgeschäft eingriff, wurde die Gesinnung des Königs allmählich offen für andere Einflüsse. Diese Einflüsse gewannen Zugang zu ihm und hatten es um so leichter, ihn abzuschirmen, nachdem er seine Residenz von Berlin in sein Schloß nach Potsdam, eine kleine, in erster Linie von Höflingen, Soldaten und anderen Regierungsabhängigen bewohnte Stadt, verlegt hatte. Auf diese Weise wurde der direkte Kontakt des Königs zum Volk abgebrochen, seine Beratungen mit den neuernannten liberalen Ministern wurden auf kurze, formelle „Audienzen“ beschränkt, und die Stimmen, die die alten Sympathien, Voreingenommenheiten und Parteilichkeiten ansprachen, waren seinem Ohr stets am nächsten.

Da gab es die Armee, traditionsgemäß das Schoßhündchen der Hohenzollern, die unter „entehrenden“ Abzug aus Berlin nach den Straßenkämpfen litt und auf Rache und die Wiederherstellung ihres Ruhmes brannte. Da gab es den Hofadel, dessen Aufgabe seit jeher darin bestand, die Person des Königs zu bejubeln und ihr zu schmeicheln. Da gab es den Landadel, das Junkertum, dem seine feudalen Privilegien theoretisch im Geist der Revolution verweigert und praktisch durch die Gesetzgebung der Volksvertreter beschnitten worden waren und der geschickt den Stolz des Königs anstachelte. Da gab es die alte Bürokratie, deren Macht die Revolution gebrochen hatte, obwohl ihr Personal kaum verändert worden war, und die versuchte, ihren früheren Einfluß wiederzuerlangen. Da gab es den „alten preußischen“ Geist, dem jede nationale Bestrebung zuwider war, die die Bedeutung und die Selbstgefälligkeit des spezifischen Preußentums zu überlagern drohte und der in der unmittelbaren Umgebung Berlins und in einigen der östlichen Provinzen immer noch mächtig war. Alle diese Kräfte, die im Volksmund mit dem allgemeinen Begriff „die Reaktion“ bezeichnet wurden, arbeiteten zusammen, um den König von dem Weg abzubringen, den er direkt nach der Märzrevolution angeblich eingeschlagen hatte. Sie hofften, ihn für die weitestgehende Wiederherstellung der alten Ordnung benutzen zu können, wohl wissend, daß sie durch ihn die Armee und damit eine riesige, womöglich entscheidende Kraft in bevorstehenden Konflikten kontrollieren konnte. Und diese Reaktion wurde außerordentlich gestärkt durch die geschickte Ausnutzung einiger heftiger Straßenkämpfe, die in Berlin stattfanden, in einer exzessiven Form, die in einem freien Land wie England in der Tat vielleicht auch ein paar harte Repressionsmaßnahmen seitens der Polizei zur Folge gehabt hätten, aber mit Sicherheit niemanden dazu veranlaßt hätten, die Anwendbarkeit der bürgerlichen Freiheit und die konstitutionellen Regierungsprinzipien in Frage zu stellen. Aber diese Vorfälle wurden in Preußen mit beträchtlichem Erfolg dazu benutzt, der ängstlichen Bourgeoise das Gespenst allgemeiner Anarchie an die Wand zu malen und den König zu überzeugen, daß letzten Endes die Wiederherstellung uneingeschränkter königlicher Macht für die Aufrecherhaltung von Recht und Ordnung notwendig war.

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