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Hans Delbrück über Bismarcks Erbe (April 1890)

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Kartell ist nicht regierungsfähig, weil das Antikartell nicht regierungsfähig ist. Die Whigs sind nur deshalb regierungsfähig, weil, wenn sie einmal abgewirtschaftet haben, sofort die Tories bereit sind, sie abzulösen. Wäre das nicht, so müßte irgend eine andere Gewalt in die Lücke treten, und diese müßte auch schon vorher existieren, also auch schon vorher zum wenigsten mit den Whigs sich in die Herrschaft teilen. Wir haben diese dritte Macht: es ist das Königtum, gestützt auf die Beamtenschaft und die Armee. Was die Tagespolitiker die 'Zerfahrenheit' unseres Parteilebens zu nennen pflegen, ist nichts als der Ausdruck der Fülle und der Gesundheit. Wie arm ein Land, dessen politische Lebenskräfte zuletzt nicht mehr als zwei Gedanken repräsentieren! Der Reichtum der Parteien in Deutschland ist der Reichtum unseres politischen Lebens, und die Einheit in diesem Reichtum bildet die Monarchie. Die Unangreifbarkeit ihrer Stellung beruht darauf, daß keine der Parteien je daran denken kann, für sich allein die Majorität in der Volksvertretung zu erlangen. Das ist ein durch die Natur und die Geschichte Deutschlands gegebenes Verhältnis. Ein lebendiges politisches System daraus gestaltet zu haben, ist das Verdienst des Fürsten Bismarck. Kaum eine Partei steht in absolutem Gegensatz zur Regierung; keine darf sich rühmen, mit ihr identisch zu sein.

Alle diese Betrachtungen berühren sich mit den Gedanken, die wir bereits in unseren beiden letzten Korrespondenzen, vor wie nach den Wahlen ausgeführt haben. Sie kulminieren, von welcher Seite man auch komme, immer wieder in dem Satz: die überlieferten Parteigegensätze sind veraltet; sie sind teils praktisch, teils sogar prinzipiell überwunden, der Rest wenigstens zur Zeit in die Tiefe zurückgedrängt. Die neuen Aufgaben aber, die sich erst zu bilden schienen, sind mit überraschender Schnelligkeit aktuell geworden. Wie das neue Kapitel der Sozialgesetzgebung, das wir Ende Januar noch in ziemlicher Ferne glaubten, durch die Februar-Erlasse plötzlich eröffnet worden ist, so wird die Neugestaltung unseres Parteilebens, die uns am Horizonte heraufzuziehen schien, durch den Kanzlerwechsel sicherlich beschleunigt werden. Politik wird von Personen gemacht; jede neue politische Gestaltung wird daher erleichtert, wenn die überlieferten Potenzen von neuen Personen repräsentiert werden. Das ist ein Gesetz, so alt wie Partei und Staatsleben selbst. Wenn es nun richtig ist, daß nach dem Ausfall der Wahlen die Regierung den Versuch zu machen hat, einen modus vivendi mit der deutschfreisinnigen Partei anzubahnen, so ist das gewiß für den Reichskanzler von Caprivi eine viel leichtere Aufgabe als für seinen Vorgänger. Fürst Bismarck hat mit den Liberalen den Verfassungskonflikt durchgekämpft und mit Hilfe derselben Liberalen die neue Reichsverfassung geschaffen. Er hat mit dem Zentrum den Kulturkampf durchgekämpft und mit Hilfe desselben Zentrums das Schutzzollsystem und die Grundlagen der Sozialreform geschaffen. Er würde, wenn es überhaupt tunlich ist und er gewollt hätte, auch die Freihandelspartei in einer nützlichen Kooperation zu verwerten gewußt haben. Daß sein erfinderischer Geist nicht auch andere Auskünfte hätte entdecken, oder daß schon Anzeichen vorhanden gewesen, er hätte grade diese Richtung einschlagen wollen, ist gewiß nicht zu behaupten. Sein Nachfolger aber ist nahezu gezwungen, diesen Weg zu nehmen. So wenig wie mit dem Zentrum wird die Aussöhnung eine prinzipielle, eine plötzliche oder eine vollständige sein. Die deutschfreisinnige Partei wird Opposition bleiben nach wie vor. In den praktischen Fragen aber wird sie, oder wird ein Teil ihrer Mitglieder mit sich verhandeln lassen, und der gehässige, persönliche Hader wird darüber allmählich zwar nicht still, aber doch um einiges stiller werden.

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