Die herausragende, Zwang ausübende Gewalt im Dritten Reich war nicht die NSDAP selbst, sondern vielmehr die SS, welche sich von ihren bescheidenen Anfängen als nachgeordnete Gruppe zur mächtigsten und am meisten gefürchteten Organisation des Landes entwickelt hatte. Ab 1929 entwickelte sich die SS als eine straffer organisierte, diszipliniertere Alternative zu Röhms SA: eine paramilitärische Einheit, die sich außerdem als Nazi-Elite betrachtete. Nach der Nazi-Revolution expandierte die SS und fächerte sich auf, sie wurde größtenteils unabhängig von der Parteiorganisation und schloss sich mit verschiedenen Teilen der Regierung zusammen.
Die SS war das Geistesprodukt Heinrich Himmlers (1900-1945). Der Sohn eines bayerischen Gymnasiallehrers wirkte dumpf, pedantisch und humorlos. Doch er besaß eine Zahl von Eigenschaften, die dem Regime äußerst nützlich waren: Organisationstalent, absolute Hingabe an die Sache und eine verschlagene innere Natur, die sich hinter dem gelassenen Äußeren verbarg. Als junger Mann führte Himmler akribisch genaue Aufzeichnungen, einschließlich eines Tagebuches und einer mit Anmerkungen versehenen Lektüreliste, die beide noch existieren (7). Himmlers mit Kommentaren versehene Ausgabe von Hitlers Mein Kampf ist ebenfalls erhalten und wird im Museum of Jewish Heritage in New York aufbewahrt. Himmlers Unterstreichungen und Randnotizen zeigen, dass Hitlers Text ihm eine Fülle von Ideen lieferte, von denen er viele als geeignet für die praktische Anwendung in der SS hielt. So schrieb er beispielweise neben eine Passage über die Bedeutung der Schaffung von Selbstbewusstsein und eines Sinnes für rassische Überlegenheit in der deutschen Jugend „Erziehung von SS und SA.“ 1927, sechs Jahre bevor die Nazis an die Macht kamen, hatten Hitlers langatmige Überlegungen zu Rassenreinheit und den Gefahren der Rassenmischung Himmler zu der gekritzelten Anmerkung veranlasst: „die Möglichkeit der Entmischung ist vorhanden.“ Sowohl Hitlers Text als auch Himmlers Anmerkungen beweisen, dass Gedanken zur Säuberung der deutschen Bevölkerung durch Entfernung der Quellen „biologischer Verunreinigung“ bereits lange vor 1933 im Umlauf waren. Himmlers späterer Erfolg lässt sich zumindest teilweise auf seine frühe Beschäftigung mit Hitlers Rassentheorie und seiner Fähigkeit, diese innerhalb der SS anzuwenden, zurückführen.
Himmler war katholisch erzogen worden, aber ein vehementer Gegner der Kirche. Doch studierte er den Erfolg der Jesuiten und versuchte, die SS zu einem Elite-Männer-„Orden“ zu machen – genauer gesagt, zu einem Orden von Elitenkämpfern mit unverkennbarer Form und Beschaffenheit. Sein erster Schritt bestand darin, sicherzustellen, dass SS-Mitglieder die rassischen Kriterien erfüllten, was eine rein „arische“ Abstammung bedeutete. Ob sie entsprechend aussahen oder nicht, SS-Offiziere mussten nachweisen, dass ihr Stammbaum bis zum Jahr 1750 zurück keine Juden enthielt; die unteren Ränge mussten ihre arische Abstammung bis 1800 nachweisen. Himmler, der während seiner Ausbildung zum Landwirt die vorherrschenden Theorien der Eugenik übernommen hatte, übertrug seinen Männern keine geringere Aufgabe als die Aufwertung des Gen-Pools der deutschen Bevölkerung. Wenn die SS-Männer Deutschland mit dem zukünftigen Rassenadel versorgen sollten, so musste der rassischen „Eignung“ ihrer Frauen allerdings gleiche Beachtung geschenkt werden. Folglich behielt sich die SS das Recht vor, die Heiratswünsche ihrer Mitglieder zu genehmigen oder abzulehnen. Die Anträge wurden vom Rassenamt-SS (1933 in Rasse- und Siedlungsamt umbenannt) untersucht, das bis 1938 von Richard Walter Darré (1895-1953) geleitet wurde. Als Begründer der nationalsozialistischen „Blut- und Boden-Ideologie“ vertrat Darré das Konzept eines nordisch-deutschen Landadels. Am 29. Juni 1933 wurde er zum Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft ernannt.
(7) Zu Himmlers frühen Jahren vgl. Bradley F. Smith, Heinrich Himmler: A Nazi in the Making, 1900-1926. Stanford: Hoover Institution Press, 1971 (dt.: Bradley F. Smith, Heinrich Himmler 1900-1926. Sein Weg in den deutschen Faschismus. München: Bernhard und Graefe, 1979).
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