Das NS-Regime wollte Familie und Jugendkultur in den Staat und die Rassegemeinschaft inkorporieren. Religiöse Einrichtungen wurden dagegen als konkurrierende Autoritäten betrachtet, die es einzuschränken oder zu beseitigen galt. Doch mussten Pläne, diese Ansichten in die Tat umzusetzen, aus politisch-taktischen Gründen verschleiert, in Krisenzeiten verschoben, und schließlich während des Krieges bis auf weiteres aufgegeben werden; dennoch tauchten sie in vertraulichen Gesprächen oder unbedachten öffentlichen Äußerungen einiger radikaler Nazis auf. Trotzdem versuchten die meisten Würdenträger der protestantischen und katholischen Kirchen, sich mit dem NS-Regime zu arrangieren. Sie mögen dies auf der Grundlage irreführend-beschwichtigender öffentlicher Aussagen Hitlers getan haben oder aufgrund gefühlter Gemeinsamkeiten bezüglich des Nationalismus und Antimarxismus. In den ersten Jahren des Dritten Reiches spürte nur eine Minderheit von Kirchenmännern die riesige Kluft, die den Nazismus von sämtlichen christlichen Glaubensrichtungen trennte, und in dieser Gruppe sahen wenige Alternativen dazu, innerhalb des Systems zu wirken.
Im Allgemeinen neigte die (vorrangig lutherisch-)evangelische Kirche stark zur Unterstützung der Regierung. Ende des Jahres 1933 begann sich aber unter den Lutheranern ein antinazistisches Element als Reaktion auf die Machenschaften einer eifrigen nazifreundlichen Fraktion namens Deutsche Christen zu bilden (36). Die Verhaftung zweier lutherischer Landesbischöfe im Herbst 1934 führte fast unmittelbar zur Bildung der separatistischen Organisation, die als Bekennende Kirche bekannt wurde. Das NS-Regime machte vorübergehend einen Rückzieher: die beiden verhafteten Bischöfe wurden wieder eingesetzt. Innerhalb der evangelischen Kirche blieben die Bekennenden Gemeinden jedoch eine kleine Minderheit.
Anders als die evangelische Kirche war die katholische Kirche eine internationale Einrichtung, deren höchste Instanz außerhalb Deutschlands angesiedelt war. Das in Teil I dieser Einleitung erwähnte „Reichskonkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich“ vom 20. Juli 1933 definierte vermeintlich das Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und dem Staat, wodurch eine Reihe heikler Fragen gelöst werden sollten. Sein geheimer Anhang sah außerdem die Einberufung katholischer Geistlicher zum Militärdienst vor, was insofern ein bemerkenswerter Bestandteil ist, da es zu dieser Zeit keine Wehrpflicht gab – die deutsche Armee war durch den Versailler Vertrag auf 100.000 Mann beschränkt worden.
(36) Doris L. Bergen, Twisted Cross: The German Christian Movement in the Third Reich. Chapel Hill: North Carolina, 1996; John S. Conway, The Nazi Persecution of the Churches. Vancouver: Regent College Publishing, 1997.
Seite 31