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4. Religion, Bildung, Sozialwesen
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Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890   |   1. Demographische und ökonomische Entwicklung   |   2. Gesellschaft   |   3. Kultur   |   4. Religion, Bildung, Sozialwesen   |   5. Politik I: Reichsgründung   |   6. Militär und internationale Beziehungen   |   7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung

Reform der staatlichen Schulen und Hochschulwesen. In diesem Zeitraum genoss das deutsche Bildungswesen in aller Welt hohes Ansehen aufgrund seiner hohen Qualität, relativ guten Zugänglichkeit und seinem Beitrag zu hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen. Statistische Überblicke dokumentieren eine noch nie dagewesene zahlenmäßige Zunahme von Schülern in Volksschulen und höheren Schulen sowie der in Deutschland auf Universitätsebene eingeschriebenen Studenten und der Zahl der Lehrkräfte und Institutionen, bei denen sie diesen Unterricht erhielten (D18, D19, B20, B22). Entscheidend bei der Einschätzung dieser Erfolgsgeschichte ist es, den höchst geschlechterspezifischen Aufbau der Bildungschancen im Auge zu behalten, die deutschen Jugendlichen offen standen, und ebenso die konfessionellen und klassenabhängigen Trennlinien, die den Anspruch ad absurdum führten, die deutsche Bildung sei allgemein zugänglich oder basiere allein auf geistiger Leistung (D23, D24). Nach Berichten aus erster Hand von Kindern und Studenten (D20, D21, D22), bestätigt durch die Erinnerungen ihrer Lehrer (D25), nahm im Lauf der Zeit die Zahl der Kinder ab, die man von der Schule fernhielt, weil sie in der Erntezeit auf dem Feld oder als Boten für Kleinbetriebe gebraucht wurden. Andererseits erhöhte sich der Druck, den Schülern und Studenten „staatstragende“ Werte beizubringen, ausgesprochen (D23). Der von den Leipziger Mitgliedern des Vereins Deutscher Studenten Anfang der 1880er Jahre an den Tag gelegte Ultranationalismus folgte im Kern den Erklärungen Kaiser Wilhelms II. gegen Ende des Jahrzehnts über die zentrale Rolle der Lehrpläne an Schulen als Mittel zum Kampf gegen die „revolutionäre Bedrohung“ durch die Sozialdemokratie (D26, D27). In beiden Fällen wurde die deutsche Jugend als Quelle nationaler Überlebenskraft und Erneuerung angesichts konfessioneller, klassenbedingter und geschlechterspezifischer Bedrohungen betrachtet, denen sich die „ungeprüfte“ Nation gegenübersah.

Armenfürsorge, staatliches Gesundheitswesen, Sozialversicherung. Religiöse Frömmigkeit trieb karitative Bemühungen an, die Leiden sowohl der ländlichen als auch städtischen Bevölkerung zu lindern. Die deutsche Jugend wurde für dieselben Anstrengungen mobilisiert. Nach der Reichseinigung jedoch, als die Sozialdemokratie immer besser in der Lage war, die Aufmerksamkeit auf das Elend der Ärmsten in der Gesellschaft zu lenken (D31, D33), verdoppelten die Deutschen ihre Bemühungen, die „soziale Frage“ zu lösen. Als Kaiser Wilhelm I. in seiner Thronrede vom November 1881 (D28, B25) die Absicht der Regierung verkündete, ein umfassendes staatliches Kranken-, Unfall-, und Altersversicherungssystem einzuführen (B26), entging es nur wenigen Zeitgenossen, dass dieses beeindruckende Programm das „Zuckerbrot“ darstellte, das die Peitsche begleiten sollte, mit der Bismarck die Sozialdemokratie seit Anfang der 1870er Jahre gezüchtigt hatte. Die Berichte der Armenärzte (D32) und bürgerlicher Sozialreformer (D34, D37, D38, D39) belegen die Unterernährung und andere Notlagen, die Millionen von Arbeiterfamilien plagten (D33). Illustrierte Zeitschriften, Künstler und Sozialdemokraten sorgten dafür, dass die Probleme einer schwachen Gesundheit, des vorzeitigen Todes und der Lücken im sozialen Sicherheitsnetz im öffentlichen Bewusstsein an die vorderste Stelle rückten (D35, B24, B26, B27, B28).


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