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1. Demographische und ökonomische Entwicklung
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Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890   |   1. Demographische und ökonomische Entwicklung   |   2. Gesellschaft   |   3. Kultur   |   4. Religion, Bildung, Sozialwesen   |   5. Politik I: Reichsgründung   |   6. Militär und internationale Beziehungen   |   7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung

Landwirtschaft, Industrie, Handel. Nach Mitte der 1870er Jahre erlebte die deutsche Landwirtschaft zunehmende Konkurrenz durch ausländische Erzeuger. Beispielsweise konnte nun Getreide aus den kanadischen Prärien, aus Australien und Russland den deutschen Markt zu Preisen erreichen, der die ostpreußischen Großgrundbesitzer in Schulden und über den Rand des Bankrotts stürzte. Trotzdem steuerten technische Neuerungen wie die Einführung der dampfbetriebenen Dreschmaschinen auf dem Land (B5, B6) insgesamt zu Produktivitätssteigerungen im deutschen Ackerbau bei. Gewiss übertrafen die Zuwachsraten in Bergbau, Industrie und Handel jene der deutschen Landwirtschaft, besonders ab der zweiten Hälfte der 1870er Jahre. Doch sollte man darauf achten, das Tempo des Übergangs in Deutschland von einem Agrar- zu einem Industriestaat nicht zu übertreiben (als Wendepunkt wird normalerweise die Zeit um 1900 betrachtet). Wie Klaus Bade argumentiert hat, ist es sinnvoller, von einem allmählichen Wandel von einem Agrarstaat mit starkem Industriesektor (besonders in der Bismarckzeit) zu einem Industriestaat mit starkem Landwirtschaftssektor nach der Jahrhundertwende zu sprechen (D5, D6).

Im ersten hier behandelten Jahrzehnt lag der Antrieb der deutschen Industrialisierung noch immer im Eisenbahnbau sowie dem großangelegten Bergbau, den Eisenwalzbetrieben und anderen Industriezweigen, die ihn aufrechterhielten (D7, D8). Kleine Werkstätten bestanden weiterhin, wenngleich in den frühen 1860er Jahren die Sonderrechte der Zünfte in den meisten deutschen Staaten mit Gesetzen zur Gewerbefreiheit gebrochen worden waren (D10, B7). Riesige Fabriken, die man mit dem Zeitalter des Hochkapitalismus verbindet, gab es in den 1870er Jahren noch selten. Im Jahr 1882 hatten über die Hälfte aller Industriebetriebe eine Belegschaft von nicht mehr als fünf Arbeitern (B8). Nichtsdestotrotz veränderten seit den 1880er Jahren technische Innovationen das Erscheinungsbild der Industrieproduktion: Nun lenkten Präzisionsmaschinen, Stahl, Werkzeugbau und – ein wenig später – die Entstehung der petrochemischen und Elektroindustrie die deutsche Wirtschaft in neue Bahnen. Auch das Handels- und Bankwesen expandierte in diesen Jahren außerordentlich. Die Dokumente und Bilder in diesem Abschnitt beschreiben die Einführung von Gasmotoren (D11), Veränderungen in der Bauindustrie (D12), den Übergang von Pferdebahnen zu elektrischen Straßenbahnen (D14, D15) und die Einführung von elektrischer Beleuchtung, Telefonen und Autos (D16, D17, B10, B11, B12). Solche Fortschritte im Verkehr und in der städtischen Infrastruktur trugen zum weiteren Wachstum der Städte bei: Arbeiter konnten nun weiter entfernt von den Stadtzentren leben und dennoch mit öffentlichen Verkehrsmitteln rasch zu und von ihren Arbeitsschichten fahren. Sie nährten zudem eine erkennbare Konsumkultur, die Industrie, Handel und Alltagsleben enger zusammenrücken ließ. Werbeleute priesen und gewöhnliche Deutsche bestaunten seit Ende der 1880er Jahre jene modernen Annehmlichkeiten, die ihr Alltagsleben verändert hatten (B10, B11). Wissenschaftler, Erfinder und Forscher glaubten, das Zeitalter der Entdeckungen verwirkliche sich durch deutsches Wissen (B14, B15), und Dichter schrieben Lobeshymnen auf den technischen Fortschritt (D18).


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