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Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890
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Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890   |   1. Demographische und ökonomische Entwicklung   |   2. Gesellschaft   |   3. Kultur   |   4. Religion, Bildung, Sozialwesen   |   5. Politik I: Reichsgründung   |   6. Militär und internationale Beziehungen   |   7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung

Das erste Thema fasst sowohl die Bevorzugung des Stillstands als auch die Beweggründe für eine Reform der bestehenden Ordnung ins Auge. Welche wirtschaftlichen Strukturen, sozialen Beziehungen, kulturellen Einstellungen und politischen Institutionen aus dem Jahr 1871 blieben 1890 erhalten – oder gar 1918? Indem man diese Texte analysiert und die Einzelheiten dieser Bilder untersucht, lassen sich die subjektiven Reaktionen der Deutschen auf Stabilität und Wandel im privaten und öffentlichen Leben erforschen.

Das zweite Thema überschneidet sich mit dem ersten. Es betrifft das Spannungsverhältnis zwischen Autorität und Protest. War das Autoritätsprinzip jeden 2. September zu erkennen, wenn die Deutschen die Ursprünge ihres Reiches in der Feuerprobe des Krieges feierten? War die Revolution der Fanfarenstoß, der eine Welle von Streiks, Aussperrungen und weitere Arbeitskämpfe in den letzten Jahren von Bismarcks Kanzlerschaft hervorrief? In den Dokumenten entdeckt man, dass Vertreter des autoritären deutschen Staates – ermutigt durch die Unterstützung der Eliten und anderer Kreise, die befürchteten, das Tempo des Wandels laufe aus dem Ruder – in der Lage waren, viele Barrieren gegen eine gerechtere Verteilung von Wohlstand, Privilegien und Macht zu errichten. Auch stößt man auf eine erstaunliche Anzahl Deutscher, die solche Schranken in Frage stellten, zu kippen versuchten und die Grundannahmen darüber bezweifelten, wie Autorität legitimiert und eingesetzt werden sollte. Diese Deutschen erdachten oder belebten solche Formen des politischen, sozialen und kulturellen Protests aufs Neue, die man gemeinhin mit früheren oder späteren Abschnitten der deutschen Geschichte in Verbindung bringt – mit dem Zeitalter der Romantik beispielsweise, mit den Revolutionen von 1848/49 oder mit dem Expressionismus, dem Pangermanismus und dem Anarchismus der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts. In diesem Band hat man mit dem Paradox zu kämpfen, dass der Autoritarismus in Bismarcks Deutschland tatsächlich auch Ausdrucksformen des Protests beförderte und radikalisierte.

Das dritte Thema konzentriert sich auf die bemerkenswerte regionale Vielfalt Deutschlands. Diese Fülle lässt sich nicht auf einen Gegensatz von Zentrum und Peripherie reduzieren. Gewiss stößt man häufig auf die skeptischen Ansichten von Deutschen, die sich den sozialen, kulturellen und politischen Entwicklungen in der neuen Reichshauptstadt Berlin fern und durch sie entfremdet fühlten. Doch darf man dabei nicht die extreme geografische Ungleichheit der industriellen Entwicklung, der religiösen Zugehörigkeit und der regionalen politischen Kulturen quer durch die Bundesstaaten und Provinzen Deutschlands vernachlässigen. Nur wenn man die Perspektive der politischen Elite in Berlin aufgibt und die abgelegenen Wege der deutschen Geschichte erkundet, lässt sich die Verflechtung lokaler, regionaler und nationaler Angelegenheiten angemessen erfassen. Und nur dann lässt sich die Vielfalt der Einstellungen unter Steuerzahlern, Kirchgängern, Wehrpflichtigen, Arbeitnehmern, Zeitungslesern und anderen einschätzen, die sich zuerst als Leipziger, Rheinländer oder Bayern betrachteten und erst in zweiter Linie als Deutsche.


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