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5. Der Abbau des Reformstaus
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Überblick   |   1. Von der Teilung zur Einheit   |   2. Die Vereinigungskrise   |   3. Normalität und Identität   |   4. Deutschland in der Welt   |   5. Der Abbau des Reformstaus   |   6. Politik im vereinten Deutschland   |   7. Übergänge: Von der Bonner zur Berliner Republik

Im Zeichen der Globalisierung und Europäisierung gilt, dass Beurteilungen – ob positiv oder negativ – in internationale Vergleichsdaten eingebettet werden. Erfolg wird nicht zuletzt daran gemessen, in welchem Maße Deutschlands Wirtschafts- und Sozialsysteme sich im internationalen Vergleich bewähren und auf nationaler Ebene Prinzipien des Wettbewerbs mit sozialer Gerechtigkeit vereinen können. Bei internationalen Vergleichen spielt es durchaus eine Rolle, welche Vergleichsdaten man heranzieht: Will man zum Beispiel betonen, dass die deutsche Wirtschaft den Herausforderungen der Globalisierung begegnet, dann empfiehlt es sich, die Rolle Deutschlands als Exportweltmeister oder die Höhe der ausländischen Direktinvestitionen hervorzuheben. Glaubt man, dass Deutschland auf dem Weltmarkt nach wie vor nicht wettbewerbsfähig ist, dann helfen Zahlen zu den hohen Lohnnebenkosten, der Inflexibilität des Arbeitsmarktes und langsamem Wirtschaftswachstum, um dies zu belegen. So hilfreich Vergleichsdaten sind, um Deutschlands wirtschaftliche Leistungskraft und Wettbewerbsfähigkeit in der Welt zu verorten, so wenig berücksichtigen sie nationale Charakteristika, die im Falle Deutschlands die vereinigungsbedingte Sonderlage und eine starke Identifikation mit den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit berücksichtigen müssen. Kommt man einmal von der Fixierung auf Wirtschaftsdaten ab und schließt Reformen im Wehrbereich, in der Bildung, in der Gesellschaftspolitik mit ein, so zeigt sich das Bild ebenfalls facettenreicher, als in der Öffentlichkeit oft wahrgenommen wird.

Dass der Reformelan immer wieder blockiert und unterminiert wurde, wird nicht bestritten, doch wird dem politischen System inzwischen Fortschritt bei der Bewältigung der Aufgaben attestiert (31). Reformpolitik in Deutschland ist in der Regel ein behutsamer Anpassungsprozess, der alte Strukturen modifiziert, um sie effektiver zu machen. Radikale Einschnitte sind dagegen selten. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Kumulierung von kleineren Reformschritten durchaus weitreichende, auch strukturelle Konsequenzen zeitigen kann. Die Räder der Politikmühlen drehen sich langsam, doch Steuer- und Rentenreform, ein Umbau der Kapital- und Arbeitsmärkte und des Hochschulsystems und nicht zuletzt eine Reihe von Gesetzen, die gesellschaftliches Umdenken im Verhältnis zwischen den Geschlechtern und zu Ausländern voranbrachten, haben die Republik nachhaltig verändert (32).



(31) Die Literatur zu diesem Thema ist so inzwischen so zahlreich, dass hier nur einige jüngere Publikationen aufgeführt werden sollen. Klaus F. Zimmermann, Hg., Deutschland was nun? Reformen für Wirtschaft und Gesellschaft (München, 2006); Peter Bofinger, Wir sind besser als wir glauben. Wohlstand für alle (Reinbek bei Hamburg, 2006); Franz Walter, „Die ungleichzeitige Wirklichkeit. Eine Besichtigung der deutschen Gesellschaft im Jahr 2005“, Internationale Politik, 60 (Oktober 2005), S. 6-13. Zur Reformdebatte siehe auch die Beiträge in Simon Green und William E. Paterson, Hg., Governance in Contemporary Germany. The Semisovereign State Revisited (Cambridge, UK, 2005) und Jürgen Kocka, Hg., Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Sozialwissenschaftliche Essays. WZB Jahrbuch 2006 (Berlin, 2007).
(32) Siehe z.B. Perry Anderson, „A New Germany?”, New Left Review, 57 (May/June, 2009), S. 5-40; auf deutsch: „Ein neues Deutschland? Die Bundesrepublik 20 Jahre nach dem Mauerfall“, Mittelweg, 36, 4, S. 3-40.

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