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7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung
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Überblick: Reichsgründung: Bismarcks Deutschland 1866-1890   |   1. Demographische und ökonomische Entwicklung   |   2. Gesellschaft   |   3. Kultur   |   4. Religion, Bildung, Sozialwesen   |   5. Politik I: Reichsgründung   |   6. Militär und internationale Beziehungen   |   7. Politik II: Parteien und politische Mobilisierung

Bismarcks Vermächtnis. Ein gelehrter Witzbold bemerkte einmal, dass ein Buch mit dem Titel „Die deutsche Einigung durch Wilhelm I.“ eher den geänderten Titel „… trotz Wilhelms I.“ hätte tragen sollen. Wilhelm I. selbst stellte vor seinem Tod im März 1888 trocken fest, es sei nicht leicht gewesen, als Kaiser unter der Herrschaft eines Kanzlers wie Bismarck zu dienen. Bismarck seinerseits war konsequent und aufrichtig, wenn er anführte, er habe stets nach dem Wohlgefallen seines Königs gedient (B38). Während der kurzen Regierungszeit Kaiser Friedrichs III. (B42) im Frühjahr 1888 waren die Beziehungen zwischen Bismarck und dem Königshaus ernstlich belastet. Zur Überraschung der meisten Eingeweihten stellten sich freundschaftliche Beziehungen zwischen dem Kanzler und dem Kaiser wieder ein, als Kaiser Wilhelm II. im Juni 1888 den Thron bestieg. Gegen Ende des „Dreikaiserjahres“ jedoch waren bereits dunkle Wolken am Horizont aufgezogen, die Wilhelm II. schließlich zur Entlassung Bismarcks im März 1890 bewegten (D42, B46). Selbst vor diesem Tag hatten Zeitgenossen bereits über die historische Bedeutung und die Folgen von Bismarcks langer Amtsperiode debattiert (D40, D41). Wohin sollte es mit Deutschland nun gehen?

Diese Debatte setzte sich nach Bismarcks Rücktritt monate- und jahrelang fort (D43, D44, D45). Ein Bismarckkult hatte bereits vor dem Tod des Altkanzlers im Juli 1898 enorme Dimensionen angenommen. Nur ein Jahr zuvor hatte allerdings eine anonyme politische Karikatur (B48) die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wie die deutsche Geschichte unter Bismarck erschütternde, aber wenig überzeugende Wege hin zum neuen Jahrhundert eingeschlagen hatte. Diese Karikatur stellt dieselbe Art von triumphalem Gestus dar, die auch an anderer Stelle in diesem Band zu sehen ist – gegenüber internationalen Gegnern, angeblichen Attentätern und liberalen Widersachern. Doch sie zeigt auch die tief sitzenden Befürchtungen, wohin jene Triumphe in Zukunft führen könnten.

Das Deutsche Reich war auf dem Amboss des militärischen Sieges, der Monarchie und der Vorherrschaft Preußens geschaffen worden. Es war zu einem Wirtschaftsmotor ersten Ranges aufgestiegen, war in der Lage, Industriemärkte in beliebig vielen Branchen zu beherrschen. Es konnte Schulen, wissenschaftliche Labore, eine Kunstszene und Freiheiten im Wahlsystem vorweisen, um die es Europa und die Welt beneideten. Und das Prinzip des Föderalismus, so machtvoll in früheren Epochen, war nicht geopfert worden, sogar als die Zentralorgane des Reichs an Zahl und Einfluss anwuchsen. Selbst der Schutz jüdischer Rechte schien gesichert oder mindestens ebenso sicher wie in anderen Gebieten Europas. Nichtsdestoweniger sollte die Frage, ob die autoritären oder modernen Merkmale des Reichs im neuen Jahrhundert sich stärker ausprägen würden, auf quälende Weise offen bleiben. Tatsächlich bestanden beide Charakteristika fort und entwickelten sich weiter.


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